Gut eine Woche nach Beginn der ukrainischen Bodenoffensive im russischen Gebiet Kursk verbreitet Präsident Wolodymyr Selenskyj Optimismus. Russland ruft den Notstand in Belgorod aus.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht die Streitkräfte des Landes angesichts des Vormarsches im russischen Gebiet im Aufwind. "Die Ukraine kann ihre Ziele erreichen, ihre Interessen verteidigen und ihre Unabhängigkeit schützen", sagte Selenskyj in seiner in Kiew verbreiteten abendlichen Videobotschaft. Die Armee habe inzwischen 74 Ortschaften im Gebiet Kursk eingenommen. Das wären doppelt so viele wie von russischer Seite behauptet. Das ukrainische Projekt DeepState geht von etwa 44 eroberten russischen Ortschaften aus.
Ukraine nach eigenen Angaben weiter auf dem Vormarsch
Selenskyjs Oberkommandierender Olexander Syrskyj berichtete im Gespräch mit dem Präsidenten, die eigenen Truppen seien in einigen Richtungen zwischen einem und drei Kilometern vorangekommen. Demnach eroberten die ukrainischen Streitkräfte zusätzliche 40 Quadratkilometer Fläche im Gebiet Kursk.STERN PAID 25_24 Gabriel IV 6.20
Syrskyj hatte zuvor berichtet, dass seit Beginn der Offensive am Dienstag vor einer Woche eine Fläche von etwa 1000 Quadratkilometern eingenommen worden sei. Das wäre mehr als das Doppelte des Gebietes, das die russische Armee nach eigenen Angaben bei den Kämpfen im Osten der Ukraine seit Jahresbeginn eingenommen hat.
Nach Aussage des geschäftsführenden Gouverneurs der Region Kursk, Alexej Smirnow, sind dagegen nur 28 Orte unter Kontrolle des Gegners. Bei einem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin hatte Smirnow am Montag erklärt, dass die ukrainischen Streitkräfte auf einer Breite von 40 Kilometern entlang der Grenze bis zu 12 Kilometer tief in das Kursker Gebiet vorgedrungen seien. Ukrainische Quellen sprachen von etwa 30 Kilometern Tiefe. Weder die Angaben von ukrainischer noch die von russischer Seite lassen sich unabhängig überprüfen.
Russland ruft Notstand in Belgorod aus
Der Gouverneur der russischen Grenzregion Belgorod rief unterdessen angesichts der anhaltenden ukrainischen Angriffe den regionalen Notstand aus. "Die Situation in der Region Belgorod bleibt extrem schwierig und angespannt", erklärte Wjatscheslaw Gladkow in einer Videobotschaft auf dem Kurznachrichtendienst Telegram.Karkhiv im Krieg 9:12
Gladkow berichtete von täglichem Beschuss durch die ukrainischen Streitkräfte, der Häuser zerstöre und Zivilisten töte und verletze. Aufgrund dieser Situation habe man sich entschlossen, mit sofortiger Wirkung den regionalen Ausnahmezustand über das gesamte Gebiet Belgorod zu verhängen, "mit einem anschließenden Appell an die Regierung, einen föderalen Notstand auszurufen". Die Maßnahmen sollen dazu dienen, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten und die Folgen der Angriffe zu bewältigen.
Selenskyj will Eroberungen als Faustpfand nutzen
Mit der bisher beispiellosen Bodenoffensive auf russischem Gebiet verfolgt die Ukraine nach Angaben Selenskyjs gleich mehrere Ziele. Der Einfall seiner Truppen soll vor allem den Druck auf Moskau erhöhen, sich nach inzwischen fast zweieinhalb Jahren Angriffskrieg gegen die Ukraine auf Friedensverhandlungen einzulassen. Selenskyj sagte, ein gerechter Frieden komme auf diese Weise näher.
Die eroberten Flächen kann Kiew bei Verhandlungen als Faustpfand nutzen, weil es seine von den russischen Truppen besetzten Gebiete im Osten und Süden der Ukraine zurückhaben will. Das Außenministerium in Kiew hatte betont, dass die ukrainische Seite anders als Russland kein fremdes Gebiet annektiere.
Deutlich machte Selenskyj zudem, dass er die neuen russischen Kriegsgefangenen für einen Austausch gegen Ukrainer brauche. Hunderte Russen hätten sich bereits in ukrainische Gefangenschaft begeben. Sie würden humaner behandelt als in der russischen Armee, sagte Selenskyj, der sich bei Auftritten in Kiew lächelnd und so gelöst zeigte wie seit Monaten nicht mehr. Kiew und Moskau haben bereits mehrfach Gefangene ausgetauscht.