Bei der Bundestagswahl steht eine Partei vor einem fulminanten Comeback, andere blicken in den Abgrund. Der Sonntag könnte gleich mehrere politische Karrieren beenden.
Der Wahlkampf mache Spaß, sagte Olaf Scholz jüngst, es sei ein "unglaubliches Fest der Demokratie". Für den derzeitigen Kanzler und seine Genossen dürfte das Fest am Wahlabend aber spätestens mit dem Eintrudeln der ersten Prognosen vorbei sein. Wie schlimm genau es wird? Da ist noch etwas Spielraum. Auch bei einigen anderen Spitzenleuten und ihren Parteien ist die Nervosität am Wahlabend besonders hoch.
Friedrich Merz gewinnt, aber der Union ist nicht nach Jubeln
Friedrich Merz wird diese Bundestagswahl nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gewinnen. Nach Jubeln ist vielen in der Partei aber nicht zumute, die letzten Umfragen sprechen für ein Ergebnis unter den Erwartungen: um die 30 Prozent – oder sogar darunter. Noch zu Beginn des Jahres wurde intern ein Ergebnis von 35 plus x erhofft.
Für Friedrich Merz‘ Standing in der Partei wird viel davon abhängen, ob es mit seinem Wahlergebnis für ein Zweierbündnis reicht, oder wieder drei Parteien koalieren müssen. Letzteres gilt der Union als Albtraumszenario und würde Merz‘ Kanzlerschaft von Beginn an schwächen. Von einem "Merz-Malus" reden die ersten in der Partei. Bei einem schlechten Ergebnis würde auch Merz‘ waghalsige Asyl-Abstimmung im Bundestag noch einmal debattiert werden. Dennoch ist eine offene Revolte nach der Wahl gegen Merz kaum zu erwarten.
Noch glauben sie in der CDU-Parteizentrale ohnehin an den Siegereffekt: In der Wahlkabine, so die Hoffnung, wollen die Menschen für den nächsten Kanzler stimmen, den Wahlsieger. Chancen darauf hat, Stand jetzt, nur der 69-Jährige. Wie hoch aber die Wahrscheinlichkeit ist, dass er auch wirklich Kanzler wird, hängt vom Wahlergebnis ab.
Olaf Scholz und die SPD vor einer historischen Niederlage
Der SPD und ihrem Kanzler(kandidaten) droht eine krachende Niederlage, die den historischen Tiefpunkt von 20,5 Prozent im Jahr 2017 sogar noch unterbieten könnte. Es wäre eine Zäsur und der Beginn einer neuen Ära – ohne Kanzleramt, ohne Olaf Scholz.
Je nachdem, wie schlecht das Ergebnis ausfällt, dürfte der Aufruhr in der SPD unterschiedlich stark sein. Praktisch sicher ist, dass der blass gebliebene Kandidat Scholz als Sündenbock herhalten muss. Saskia Esken, Co-Parteichefin, könnte eine Art Bauernopfer werden, sollten die Rufe nach personellen Konsequenzen zu laut werden.
Läuft es rechnerisch auf eine schwarz-rote Koalition hinaus, könnte die Genossen mitgehen, müssten allerdings wie schon 2013 und 2017 ihre Mitglieder befragen. Ein schwieriger Verhandlungsprozess mit der Union ist absehbar. Wäre auch Schwarz-Grün drin, dürften die GroKo-Gegner in der Partei Morgenluft wittern und für den Gang in die Opposition trommeln. Als kaum wünschenswert wird ein Dreierbündnis angesehen – die rauflustigen Ampel-Jahre haben Spuren hinterlassen –, wenngleich eine "Kenia-Koalition" SPD und Grünen mehr Gewicht in möglichen Verhandlungen mit der Union verleihen würde.
Alice Weidel muss für die AfD jetzt liefern
Eigentlich hätte Alice Weidel keinen Wahlkampf machen müssen. Egal, was in Deutschland oder auf der Welt in den vergangenen Wochen passiert: Es verstärkte die extreme Erzählung der AfD vom Untergang Deutschlands und Europas. Hinzu kam die Hilfe durch Elon Musk und seinem mächtigen sozialen Netzwerk X.
Angesichts der günstigen Umstände muss die Kanzlerkandidatin Weidel für ihre Partei liefern. Und das heißt: Alles unter der Marke von 20 Prozent, bei der die AfD seit vielen Wochen gemessen wird, wäre für die meisten Anhänger eine Enttäuschung.
Verfehlt die AfD die Marke deutlich, wäre Weidels Position vorerst geschwächt. Sie müsste sich weiter mit Extremisten wie Björn Höcke und Konkurrenten wie Tino Chrupalla arrangieren. Je deutlicher die AfD darüber landet, umso stärker wird Weidel ihre Machtposition ausbauen können, um die Partei neu zu strukturieren und anschlussfähig zu machen – für eine Regierung ab 2029.
Robert Habeck und die Grünen blicken in eine ungewisse Zukunft
Die Ausgangslage war für Robert Habeck und die Grünen viel schwieriger als vor der letzten Wahl: ohne den gesellschaftlichen Klimaaufwind, dafür aber nach der Beteiligung an einer dauerstreitenden, dann gescheiterten Regierung. Unter diesen Umständen lief es für die Grünen nicht einmal so schlecht.
So kam die Partei in den Umfragen besser als SPD und FDP aus der gescheiterten Regierung heraus – bis Patzer ("Kapitalerträge") und Schwierigkeiten ("Gelbhaar-Affäre") folgten. Nachdem die Grünen nun, wider der eigenen Erwartungen, von der gesellschaftlichen Polarisierung über Merz' Migrationsabstimmungen mit der AfD nicht profitieren konnten, bereitet sich manch einer in der Partei seelisch darauf vor, dass es weniger Prozente werden als die 14,8 vom letzten Mal. Fürs eigene Ziel, der SPD die Führerschaft im Mitte-links-Lager streitig zu machen, dürfte es jedenfalls nicht mehr reichen.
Trotzdem wollen die Grünen weiter regieren. Für Schwarz-Grün könnte es am Ende zwar nicht reichen, doch manche spekulieren, dass die Grünen für eine Kenia-Koalition (mit Union und SPD) noch gebraucht werden könnten. Stand jetzt ist das offen – ebenso wie Habecks Zukunft, falls am Ende der grüne Gang in die Opposition folgt. Beendet der Wirtschaftsminister dann seine Politik-Karriere? Oder will er den Posten an der Fraktionsspitze – um nach vier Jahren nochmals anzugreifen? Das dürfte sich nicht direkt am Wahlabend entscheiden.
Für Christian Lindner und die FDP könnte es zum Debakel werden
Er ist der Mann, der seine FDP nach der größten Schmach 2017 zurück in den Bundestag führte. Nun könnte Christian Lindner aber auch der sein, nach dessen Regierungszeit die Liberalen erneut aus dem Parlament fliegen. Es wäre eine massive Niederlage – für die FDP, aber auch für Lindner persönlich.
Es sind turbulente Zeiten für die Partei, die im Wahlkampf keinen Aufwind für sich erzeugen konnte. Selbst wenn sie den Sprung über die 5-Prozent-Hürde und in den Bundestag schafft, dürfte ihr Ergebnis nur bei etwa der Hälfte der Prozente der beiden vorherigen Bundestagswahlen liegen. Durch das Öffentlich-Werden von Plänen, wonach die FDP gezielt auf das Ende der Regierung hingearbeitet haben soll, schlug ihr öffentlicher Gegenwind entgegen. Bei einer Abstimmung zur Migration im Bundestag mit Union und AfD zeigten sich Risse in der Partei.
Schaffen sie den Einzug, spekulieren die Liberalen sogar auf eine Regierungsbeteiligung mit Union und SPD, in welchem Fall sich Parteichef Lindner ein erneutes Regierungsamt wohl nicht entgehen lassen dürfte. Kommt es dazu nicht, könnte er den Weg in der Partei für seine Nachfolge freimachen – und hätte dann wohl mehr Zeit für das Baby, das er und seine Frau bald erwarten.
Heidi Reichinnek und ein fast unglaublicher Linke-Triumph
In dieser Woche war Heidi Reichinnek plötzlich verschwunden. Die beiden Zauberkünstler Siegfried und Joy hatten die Linke-Spitzenkandidatin in Berlin hinter einem goldenen Vorhang "weggezaubert". Mit dem Vorhang-Gag sind die beiden Komödianten in Deutschland berühmt geworden. Reichinnek tauchte Sekunden später nur wenige Meter entfernt wieder auf.
In den Umfragen passiert gerade das Gegenteil: Die Linke verschwindet nicht, sie legt immer mehr zu. Nur wenige Tage vor der Wahl liegt die Partei, die viele schon beerdigt hatten, bei sieben bis acht Prozent, während die Neugründung der abtrünnigen Ex-Linken Sahra Wagenknecht den Einzug in den Bundestag knapp verpassen könnte.
Von ihrem Rekordergebnis von 2009, als sie bei der Bundestagswahl 11,9 Prozent erzielte, ist die Linke noch weit entfernt. Ebenso wie von der rot-rot-grünen Regierungsmehrheit, die zeitweise rechnerisch möglich war. Aber ein Verbleib im Bundestag mit einem Ergebnis deutlich über der Fünf-Prozent-Hürde wäre schon ein unglaublicher Triumph für die Linke. Und eine Vorlage, um sich angesichts einer möglichen schwarz-roten Koalition als die einzig wahre Opposition von links zu inszenieren.
Für Sahra Wagenknecht und das BSW geht es um alles
Der Plan von Sahra Wagenknecht funktionierte zuerst erstaunlich gut. Sie gründete mit den Ressourcen ihrer alten Linken eine neue Partei, der sie ihren Namen gab, wie einen Privatclub steuerte und inhaltlich radikalpopulistisch ausrichtete. Flugs saß das BSW im Europaparlament und in drei Landtagen. Doch mit der – von ihr bekämpften – Beteiligung an einer CDU-geführten Regierung in Thüringen musste Wagenknecht ungewollt Formelkompromisse eingehen. Hinzu kam, dass das Thema Migration, mit dem sie kaum gewinnen kann, ihr zentrales Thema "Frieden" verdrängte.
Nun geht es für die Parteigründerin plötzlich um alles. Der Einzug in den Bundestag war immer das eigentliche Ziel ihres Projekts. Verfehlt sie es, wäre Wagenknechts politische Karriere erst einmal vorbei – und das BSW verkäme zur Splitterpartei mit ein paar gespaltenen Landtagsfraktionen. Schafft sie es jedoch über die fünf Prozent, wäre ihr verunsichertes Bündnis reanimiert und hätte die Chance, sich längerfristig im Parteiensystem zu etablieren.