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Bundestagswahl: Ein Linker will das Wunder von Neukölln schaffen



Ferat Koçak kämpft um das Direktmandat für die Linke in Berlin-Neukölln. Dafür hat er gemeinsam mit seinen Unterstützern an fast 120.000 Türen geklingelt. 

Die Sonne scheint durch ein Fenster im sechsten Stock eines Mehrfamilienhauses im Norden Neuköllns und bricht sich in den Reflektoren einer roten Warnweste. Der Träger der Weste: Ferat Koçak, Direktkandidat der Linken in Berlin-Neukölln. Ein kurzer Blick auf das Namensschild an der Tür, dann klingelt er. 

Es ist Donnerstagnachmittag, drei Tage vor der Bundestagswahl. Hinter dem 45-Jährigen liegen anstrengende Wochen. Seit Anfang des Jahres zieht er mit seinen Unterstützern von Tür zu Tür und wirbt für sich und seine Mission: das Direktmandat der Linken im Wahlkreis Neukölln. Es wäre das erste Direktmandat jemals, das die Linke im Westen bei einer Bundestagswahl gewinnt. Die Partei, die eben noch totgesagt war, glaubt jetzt an ein Wunder?

Die Neuköllner Linke hat rund 44.000 Gespräche geführt

Bereits im Oktober habe die Neuköllner Linke begonnen, Haustürgespräche zu führen, um die Probleme der Menschen zu erfahren, sagt Barbara Heinrich aus Koçaks Team. Mithilfe von insgesamt rund 2000 Unterstützern sei man dann ab Januar, als der Wahlkampf offiziell begann, von Tür zu Tür gezogen. An Hunderten Türen haben sie geklingelt, an Tausenden, an mehr als 119.000 Türen, so sagen sie. Dabei haben sie rund 44.000 Gespräche geführt.

Im Vorfeld wurde berechnet, wo es sich am ehesten lohnt, auf Stimmenjagd zu gehen. Das sei vor allem der Norden Neuköllns und einige Gebiete im Süden, wie zum Beispiel in Gropiusstadt. Dort ist die Armut größer und die Anzahl der Nichtwähler höher als in den Einfamilienhaussiedlungen. 

Ein Rumpeln im Flur, dann öffnet eine Frau mittleren Alters die Tür. Sie trägt ein blaues Kopftuch. Im Hintergrund hört man Kinder. Zuerst wechselt Koçak mit ihr ein paar Worte auf Türkisch. Koçak spricht auch kurdisch und englisch fließend. Gerade in Neukölln, wo viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben, kann das hilfreich sein. Auf Deutsch stellt er der Frau dann die Frage, die er in diesen Tagen jedem stellt: „Sagen wir, Sie sind Bundeskanzlerin, was würden Sie ändern?“

Die meisten Menschen sprechen dann von explodierenden Mieten und hohen Lebenshaltungskosten, sagt Koçak. „Eine Oma hat mir mit Tränen in den Augen erzählt, dass sie 40 Jahre gearbeitet hat und sich trotzdem kein Geschenk für ihr Enkelkind leisten kann."  

Ferat Koçak: "Wir gucken immer schnell nach unten, aber wir sollten nach oben schauen."

Für die Frau mit dem Kopftuch sind zunächst andere Dinge wichtig. Es geht um Rassismus, um Diskriminierung. Sie sagt, sie werde von anderen abgestempelt, als würde sie nicht arbeiten, kein Deutsch sprechen, keine Steuern zahlen. Außerdem mache sie sich Sorgen um die Sicherheit der Kinder in Neukölln. Koçak nickt, hört zu, hakt nach.

Linken-Politiker Ferat Koçak hält vor einem Gericht eine Rede vor JournalistenLinken-Politiker Ferat Koçak bei einer Kundgebung am Rande eines Prozesses gegen rechtsextreme Brandstifter in Berlin
© Soeren Stache

Als sich die Frau darüber beschwert, dass Menschen, die Bürgergeld beziehen, fast so viel Geld bekämen, wie sie verdient, widerspricht Koçak. „Wir gucken immer schnell nach unten, aber wir sollten nach oben schauen.“ Das Argument zieht. „Vielleicht hast du mich überredet“, sagt die Frau am Ende des Gesprächs. 

Die Linke hat in den Umfragen zugelegt

Auch auf Bundesebene schafft es die Linke, immer mehr Menschen von sich zu überzeugen. Lag sie vor wenigen Wochen in den Umfragen noch in der politischen Todeszone bei drei bis vier Prozent, kann sie letzten Erhebungen zufolge auf bis zu acht Prozent hoffen.

Ursprünglich sollte die „Mission Silberlocke“ mit den prominenten Namen Dietmar Bartsch, Gregor Gysi und Bodo Ramelow den Einzug in den Bundestag sichern. Im Mittelpunkt standen dabei die drei Direktmandate, die bei weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen den Rauswurf aus dem Parlament verhindert hätten.  

Falls sich die Prognosen bewahrheiten sollten, würde die Linke nun auch ohne Direktmandate in den Bundestag einziehen. Ein Blick auf die vergangene Wahl zeigt jedoch: Auf Umfragen ist nicht immer Verlass. Auch 2021 lag die Linke kurz vor der Wahl über der Sperrklausel – am Ende langte es nur für 4,9 Prozent. 

Für die "Silberlocken" Bartsch und Ramelow stehen die Chancen, ihren Wahlkreis zu gewinnen, laut der Internetseite wahlkreisprognose.de allerdings nicht gut. Am Ende könnte es also auch auf Ferat Koçak in Neukölln ankommen. 

In seinem Wahlkreis gewann zuletzt Hakan Demir von der SPD mit 25,8 Prozent das Direktmandat. Die Kandidatin der Linken, Lucia Schnell, kam nur auf 12,9 Prozent. Warum sollte es bei Koçak anders kommen? Wie schafft er es, die Menschen für sich zu begeistern? Was macht er anders als seine Mitbewerber? Er sagt: „Meine Art, Politik zu machen, ist einfach real, das spüren die Leute.“ Ein Beispiel dafür sei seine Sprache. Er spreche an der Haustür und im Parlament genauso wie mit seinen Cousins.

Während Koçak durch die Straßen Neuköllns geht, wird er immer wieder angesprochen. Menschen winken ihm zu, lächeln ihn an. Drei Kinder von der anderen Straßenseite skandieren: „Die Linke, die Linke…“ Es ist offensichtlich, Ferat Koçak ist in Neukölln zu Hause. Seine Großeltern kamen als Gastarbeiter aus Anatolien nach Deutschland. Er selbst ist im benachbarten Kreuzberg geboren und in Neukölln aufgewachsen. Nach einem Wirtschaftsstudium arbeitete er viele Jahre im Marketing. Das Erstarken der AfD sei für Koçak der Grund gewesen, in die Politik zu gehen. Seit 2021 ist er Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Sein Engagement beschreibt er selbst als „aktiv, unangepasst, antirassistisch und antifaschistisch“.

Ferat Koçak kritisiert die israelische Regierung

Als Politiker ist Koçak umstritten. Immer wieder ist er als parlamentarischer Beobachter auf pro-palästinensischen Veranstaltungen zu sehen, kritisiert die israelische Regierung und den Umgang mit den pro-palästinensischen Demonstrationen. Dafür steht er regelmäßig in der Kritik. Erst Anfang Februar berichtete die Berliner Zeitung über eine Wahlkampfveranstaltung, zu der die Neuköllner Linke den Ex-Chef der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, eingeladen haben soll. 

Corbyn wird immer wieder Antisemitismus vorgeworfen. 2009 bezeichnete er die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah als „Freunde“. Nach öffentlicher Kritik an der Einladung, unter anderem von der Neuköllner Direktkandidatin Ottilie Klein (CDU), wurde der Termin wieder abgesagt. Grund war Berichten zufolge ein nicht verschiebbarer Termin Corbyns. 

Koçak selbst sagt, sein politischer Kompass seien das Völkerrecht und die Menschenrechte. Den Terror der Hamas verurteile er. Trotzdem enthielt er sich bei einer Abstimmung im Berliner Abgeordnetenhaus über den Antrag, „Berlin steht an der Seite Israels“, der kurz nach dem 7. Oktober 2023 verabschiedet wurde. In einer Erklärung begründet er seine Enthaltung damit, dass das Leid der Palästinenser durch die anschließende israelische Militäroperation nicht benannt werde.  

An den Haustüren begegne ihm die Kritik nur selten, sagt Koçak. „Für mich ist es wichtig, an der Seite der Unterdrückten zu stehen, an der Seite der Menschen, die sich am Ende des Monats das Leben nicht leisten können.“ Sorge, dass es mit der Kandidatur doch nicht klappen könnte, hat er nicht. Er habe bereits gewonnen mit dem, was er und sein Team in Neukölln bis jetzt erreicht hätten. Und fügt hinzu: „Das ist kein Wahlkampf, das ist eine Bewegung.“ Vielleicht führt sie ihn bis in den Bundestag.

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