3 months ago

Vergleichbares noch nie gesehen: Augenarzt im Libanon ist noch immer entsetzt



Ärzte im Libanon sind Katastrophenszenarien gewöhnt. Doch die jüngsten Explosionen Tausender Elektronikgeräte überfordern auch sie. Der Augenarzt Elias Dscharadeh ist noch immer verzweifelt ob der schieren Zahl der Verletzten - unter ihnen auch Kinder und junge Frauen.

Seit fast einer Woche arbeitet der Augenarzt Elias Dscharadeh rund um die Uhr. Er versucht, der Flut von Patienten Herr zu werden, deren Augen verletzt wurden, als im Libanon massenhaft Funkempfänger, sogenannte Pager, und Walkie-Talkies explodierten.

Er hat den Überblick verloren, wie viele Menschen er seither in verschiedenen Krankenhäusern operiert hat. Er begnügt sich mit zwei Stunden Schlaf, dann geht es weiter. Manchen hat er das Augenlicht gerettet, viele andere Patienten werden nie wieder sehen können.

"Es gibt keinen Zweifel, dass das, was passiert ist, extrem tragisch war, wenn man sich die überwältigende Zahl von Leuten mit Augenverletzungen anschaut, die zur selben Zeit am Krankenhaus ankamen, die meisten davon junge Männer, aber auch Kinder und junge Frauen", sagte er, während er gegen die Tränen ankämpfte.

Libanesische Krankenhäuser und Mediziner wurden regelrecht überwältigt, als am Dienstag und Mittwoch vergangener Woche Tausende Elektronikgeräte im Besitz der Schiitenmiliz Hisbollah gleichzeitig explodierten. Mindestens 39 Menschen kamen ums Leben. Etwa 3000 weitere wurden verwundet. Manche davon erlitten lebensverändernde Verletzungen. Es wird weithin angenommen, dass Israel hinter dem Angriff steckt, wenngleich es seine Beteiligung öffentlich weder eingeräumt noch bestritten hat.

Viele Opfer auch Zivilisten

Zwar zielten die Explosionen offenkundig auf Hisbollah-Kämpfer ab, doch sind viele der Opfer Zivilisten. Viele erlitten Hand-, Gesichts- oder Augenverletzungen, weil auf den Geräten kurz vor der Explosion Nachrichten eingingen. Die Behörden haben nicht mitgeteilt, wie viele Menschen ihre Augen verloren haben. Altgediente und leiderprobte libanesische Augenärzte, die sich in ihrem Berufsleben um die Folgen mehrerer Kriege, Unruhen und Explosionen gekümmert haben, sagen, etwas Vergleichbares hätten sie noch nie gesehen.

Dscharadeh, der auch als Abgeordneter den Süden des Landes repräsentiert, ein Reformer, sagte, die meisten der Patienten, die in sein Krankenhaus gekommen seien, das auf Augenheilkunde spezialisiert ist, seien noch jung und hätten erhebliche Schäden an einem oder beiden Augen erlitten. In einigen Augen habe er Plastik- und Metallsplitter gefunden.

Vor vier Jahren erschütterte eine heftige Detonation den Hafen von Beirut. Mehr als 200 Menschen kamen ums Leben, mehr als 6000 wurden verletzt. Ausgelöst wurde das Unglück durch unsachgemäß gelagertes Ammoniumnitrat. Hunderttausende Tonnen davon befanden sich in einem Lagerhaus am Hafen. In einem kilometerweiten Umkreis wurden Fenster und Türen aus den Rahmen gesprengt, Glassplitter verursachten schreckliche Verletzungen.

"Krieg gegen die Menschlichkeit"

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Dscharadeh hat auch Patienten behandelt, die damals zu den Opfern gehörten. Die explodierenden Pager und Walkie-Talkies hat er aber noch intensiver erlebt - wegen der schieren Zahl an Menschen mit Augenverletzungen.

Er falle ihm schwer, seine Arbeit als Arzt von seinen Emotionen im Operationssaal zu trennen, sagt Dscharadeh. Was auch immer er über professionelle Distanz gelernt habe: "Ich denke, in einer Situation wie dieser, ist es sehr schwer, wenn man die schiere Zahl der Verletzten sieht. Dies hat mit einem Krieg gegen den Libanon und einem Krieg gegen die Menschlichkeit zu tun."

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