Die Europameisterschaft? Nette Party. Aber auch schnell wieder vorbei. Nur in der Bundesliga findet der Fußballfreund wahren Halt. Eine Liebeserklärung.
Neulich habe ich im Wohnzimmerschrank eine halbe Tüte Kartoffelchips gefunden. Lieblos zusammengeknüllt, verstaut zwischen Tellern, Eierwärmern und Fonduegabeln, fristete die Tüte ihr Dasein, ein Relikt der Fußball-Europameisterschaft. Die Chips bröselten vor sich hin, ein Symbol für die zerfallende Erinnerung an die EM.
An diesem Wochenende beginnt die neue Bundesliga-Saison. In diesem Jahr mag das manchem als der besonders graue Fußballalltag nach dem fröhlichen Rausch der EM erscheinen. Mir nicht. Im Gegenteil.
Die EM war eine nette, kurze Party. Die Bundesliga ist ein Glück von Dauer. Die EM wurde ständig am Sommermärchen 2006 gemessen, reichte aber nicht heran. Bei der Bundesliga weiß man, was man hat. Sie ist nicht fortwährend spektakulär, aber das Spektakuläre ist jederzeit möglich. Zum Beispiel Leverkusen. Oder Stuttgart. Oder Heidenheim. Die EM war die Ausnahme, nice to have. Die Bundesliga ist die Regel, für den Fußballfreund unverzichtbarer Teil seines Lebens.
In dem Film "Wochenendrebellen", nach einer wahren Geschichte, sucht ein autistischer Junge einen Lieblingsverein und reist dafür mit seinem Vater Tausende Kilometer von Stadion zu Stadion durch Deutschland. Eine Szene wiederholt sich: Immer wieder kommt der Junge die Hintertreppe einer Tribüne hoch und sieht von oben zum ersten Mal das grüne Fußballfeld und die singenden Fans im jeweiligen Stadion. Und der Zuschauer sieht in diesem Moment das Leuchten in seinem Gesicht.
Jeder Stadiongänger kennt diesen Moment. Eine positive, erwartungsfrohe Atmosphäre kann den Fußballfreund wohlig einhüllen wie ein flauschiger Bademantel den abgekühlten Saunabesucher.
Die Liebe zur Bundesliga beginnt früh
Meine Liebe zur Bundesliga war nicht vorgezeichnet. Ich gehöre zu jener Generation, die samstags um 18 Uhr auf "Daktari" im ZDF verzichten musste, weil mein Vater in der ARD Ernst Huberty sehen wollte. Erst nach der Weltmeisterschaft 1974 näherte ich mich der Liga an – und dem FC Bayern, den mein Vater favorisierte.
Meinen ersten rot-weißen Schal, gut zwei Meter lang, habe ich selbst gestrickt. Beckenbauers Autobiografie "Einer wie ich" konnte ich auswendig, auch wenn ich es als Sohn linksliberaler Eltern befremdlich fand, dass er Helmut Schmidt wegen seines "Haifischlächelns" nicht mochte, Franz Josef Strauß aber schon.
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Auf dem Volksfest schoss ich mit dem Gewehr an der Schießbude Bayernfähnchen und steckte sie in die Gardine meines Zimmers, um hinter mir eine Fankurve zu simulieren. Ich hörte auf Bayern 1 "Heute im Stadion", die Übertragung samt Bundesliga-Konferenz, und brüllte mir 90 Minuten lang die Seele aus dem Leib. Meine Eltern nahmen es hin. Nur als ich zum Lokalderby Bayern gegen 1860 München in Abwandlung der Liedzeile "Where’s your mama gone" grölte: "Schlagt die Löwen tot", schritt meine Mutter ein.
Von Ritualen und Emotionen
Kinder brauchen Rituale, weiß man aus der Pädagogik. Fußballfans sind oft Kind gebliebene Erwachsene. Ihnen bietet die Bundesliga beim Stadionbesuch Rituale: die stets gleiche Bratwurst, dieselben Nachbarn auf den Rängen, den gemeinsamen Ärger über den Videobeweis und die Bierdusche nach einem Tor. In meiner Hamburger Studenten-WG gehörten dazu nach den Heimspielen des FC St. Pauli Grillhähnchen mit Pommes, "ran" mit Reinhold Beckmann und die Stecktabelle aus dem Kicker-Magazin, um deren Pflege wir uns mit bedeutend mehr Hingabe kümmerten als um die Abwaschberge in der Spüle.
Aber mit dem Spiel an sich kommt zum Ritual noch die Spannung, der ungewisse Ausgang, Freude, Enttäuschung, Drama, Begeisterung und manchmal alles durcheinander. Diese Mischung aus Vertrautem und Unabsehbarem macht das Suchtpotenzial der Bundesliga aus. Dazu kommen die Tippspiele, mit denen jeder ordentliche Fußballfreund im Wettbewerb mit Freunden und Kollegen sich zusätzlichen Kick besorgt. Wer nicht tippt, ahnt nicht, wie sehr die korrekte Vorhersage eines überraschenden 2 : 1 des FC Augsburg in Mönchengladbach das Wochenende euphorisieren kann; der ahnt nicht, durch welche Hölle man geht, wenn ein Tor in der siebten Minute der Nachspielzeit die bis dahin volle Punktzahl für einen Tipp auf null reduziert.
Die Bundesliga markiert das Wochenende, sie gibt dem Leben Struktur und dem Samstag einen Sinn jenseits des Rasenmähens. Sie bietet Gesprächsstoff auf einer langweiligen Stehparty sowie mit Menschen, die über andere wichtige Dinge leider nicht viel sagen dürfen. Bei keinem anderem Thema wird etwa Olaf Scholz’ Regierungssprecher Steffen Hebestreit so gesprächig wie bei der glorreichen Vergangenheit seines Heimatvereins Kickers Offenbach, dem 6 : 0 gegen die Bayern im August 1974 und den Toren von Erwin Kostedde.
Die Bundesliga-Geschichte ist auch ein Bällebad für Klugscheißer, zu denen ich gehöre. Wussten Sie, dass vom ersten Bundesliga-Tor überhaupt, das Timo Konietzka für Borussia Dortmund am 24. August 1963 in Bremen erzielte, keine Bilder existieren? Oder dass Trainerlegende Hennes Weisweiler über seinen Spieler Günter Netzer sagte: "Abseits ist, wenn das lange Arschloch zu spät abspielt"? Wissen Sie, wann das erste Bundesligaspiel live im Fernsehen übertragen wurde? Oder wer als erste Mannschaft den Titel verteidigen konnte?
Oh ja, die Bundesliga hat auch ihre schlechten Seiten. Kommerz, Geldgier, aggressive Fans, Rassismus und manches mehr. Doch nichts davon würde verschwinden, wenn es sie nicht mehr gäbe. Die Bundesliga ist, wie der Bundestag, ein Abbild der Gesellschaft.
Der Wandel der Liga
Bald werde ich 58. Ich schaue immer noch gern die Bundesliga-Konferenz am Samstag und lächele gelassen darüber hinweg, wenn ich von den Kommentatoren höre, dass Chancen nicht mehr herausgespielt werden, sondern "kreiert", Bälle nicht mehr ins Tor geschossen, sondern "eingenetzt" werden. Bisweilen nötigt mir das Alter nach 20 Spielminuten ein Nickerchen ab, was sich durch eine manchmal auf nur vier Spiele zerpflückte Konferenz nicht aufhalten lässt, wenn deren Höhepunkte Mainz gegen Wolfsburg oder Hoffenheim gegen Bochum heißen. Aber zur Aufholjagd von Bayer Leverkusen bin ich wieder wach.
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In "Wochenendrebellen" sagt ein Zuschauer in Nürnberg zu dem Jungen: "Ist immer gut, wenn’s nicht einfach die Bayern sind." Und fügt hinzu: "Lernste nix fürs Leben." Inzwischen stimmt das nicht mehr. Selbst ein eingefleischter Bayern-Fan wie ich kann nur den Kopf schütteln, wie sich zuletzt gleich mehrere meiner Helden aus der Vergangenheit mit Trainerentlassungen und Missmanagement blamiert haben. Lernen konnte man daraus, dass Überheblichkeit selbst da überwindbar ist, wo sie als Markenzeichen galt.
Mit dem neuen Trainer Vincent Kompany umgibt den Verein nun "der Zauber eines geheimnisvollen Schleiers", wie die "Süddeutsche Zeitung" schrieb. Trotzdem scheint mir die Dominanz der Bayern erst mal gebrochen. Gut so. Selbst ich kann mich inzwischen an Kombinationen von Bayer Leverkusen erfreuen und am Konterfußball des VfB Stuttgart. Sogar das hat sie geschafft, meine Bundesliga.