3 months ago

Reisners Blick auf die Front: "Der Verlust Syriens wird massive Folgen für Russland haben"



Wie wenig Russland dem Assad-Regime in Syrien helfen konnte oder wollte, war überraschend. Im Interview analysiert Oberst Reisner die Folgen für die Ukraine. Eine gute Nachricht ist die Schwäche Russlands nicht unbedingt.

ntv.de: Herr Reisner, bevor wir zur Ukraine kommen, müssen wir über Syrien sprechen. Waren Sie auch überrascht von dem schnellen Zusammenbruch des Assad-Regimes?

Markus Reisner: Ich hätte es so nicht vorausgesehen, die strategische Situation war aber günstig. Die Hisbollah war durch die Angriffe Israels stark geschwächt. Russland versucht, vor Beginn der Regierung Donald Trumps in den USA, alle Kräfte in der Ukraine einzusetzen und Fakten zu schaffen. Auch die Türkei hat offenbar eine Chance gesehen, Veränderungen durchzusetzen. Interessant ist noch etwas anderes: Wir haben gesehen, wie sich die Ereignisse überschlagen können, wenn militärische Streitkräfte nach Jahren des Kampfes demoralisiert sind.

Die Russen griffen nicht ein, um Assad zu stützen. Konnten sie nicht? Wollten sie nicht?

Russland hat sich offenbar entschieden, alle Kräfte in der Ukraine einzusetzen. Der Verlust von Syrien wird aber massive Folgen haben. Dabei geht es um die beiden russischen Streitkräfte in Tartus und Latakia. Ich nehme an, die Russen werden sich nun nach alternativen Standorten umsehen müssen. Da drängt sich Libyen auf. Dort sind sie bereits mit General Haftar verbündet. Möglicherweise lassen die Russen sich demnächst in Tobruk nieder.

Sie gehen also davon aus, dass die Russen die beiden Stützpunkte in Latakia und Tartus nicht halten können?

Noch gibt es offenbar eine Vereinbarung mit den Rebellen, wonach die Basen in russischer Hand bleiben. Die Frage ist aber, wie lange das noch so bleibt und unter welchen Bedingungen die Russen dort bleiben dürfen.

Welche Bedeutung haben die Basen für Russland?

Mit Hilfe der Mittelmeerbasis konnte Russland seine militärische Stärke im Mittelmeer demonstrieren und damit Einfluss ausüben. Für die Luftwaffenbasis gilt das Gleiche. Von dort konnte Russland das Assad-Regime unterstützen. Unter Umständen bleiben Tartus und Latakia auch tatsächlich für Russland erhalten.

Ist der Sturz Assads eine Niederlage für Putin?

Das kann man so sagen. Russland war nicht in der Lage, seine Kräfte in Syrien allumfassend zu unterstützen. Die russische Wirtschaft versucht, die eigenen Truppen in der Ukraine mit allem zu versorgen, was sie brauchen. Ein zweiter Kriegsschauplatz, in Syrien, bereitete da bereits Schwierigkeiten. Die USA haben allerdings ähnliche Probleme mit der gleichzeitigen Unterstützung der Ukraine und Israels.

Was bedeutet der Rückzug Russlands für den Krieg in der Ukraine? Ist das vielleicht gar keine gute Nachricht?

Das muss man abwarten. Interessanterweise haben ukrainische Zeitungen berichtet, ukrainische Spezialkräfte hätten die syrischen Rebellen unterstützt. Es sind auch Videos von First-Person-View-Drohnen aufgetaucht, wie wir sie aus der Ukraine kennen. Vielleicht haben die Ukrainer gehofft, die Russen würden mehr Truppen nach Syrien verlegen. Stattdessen haben sie aber den Konfliktraum aufgegeben. Sie konzentrieren sich nun auf die Ukraine. Das strategische Ziel ist weiterhin, die Ukraine zu zerstören.

Heißt das, die Russen werden in der Ukraine noch stärker?

Grundsätzlich ja. Wenn Einheiten aus Syrien abgezogen werden, sind die in der Ukraine nutzbar. Das sind beispielsweise Schiffe, die Marschflugkörper aus dem Schwarzen Meer heraus abfeuern können. Andererseits waren die russischen Kräfte in Syrien nicht so umfangreich, dass sie einen großen Unterschied machen würden.

Dann schauen wir auf die Lage in der Ukraine. Wie sieht es an der Front aus?

Die Russen marschieren weiter voran, trotz hoher Verluste. Sie umgehen Pokrowsk im Süden. Sie dringen bereits in die dritte Verteidigungslinie ein. Schon jetzt kann die Ukraine die Versorgungslinien in die Stadt nicht mehr kontrollieren. Weiter südlich ist der Kessel von Kurachowe zu fast 70 Prozent eingedrückt. Dort haben die Ukrainer massiv Raum verloren. Noch ein Stück weiter im Süden marschieren die russischen Streitkräfte nach dem Fall von Wuhledar weiter voran. Die Russen haben mittlerweile einen enormen Raumgewinn gemacht.

Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, in Syrien habe man gesehen, wie schnell es plötzlich gehen kann. Meinten Sie das auch in Bezug auf die Ukraine?

Genau, das ist ein gutes Beispiel. Die Geschichte ist voller solcher Dammbrüche. Schafft Russland es, die letzten Verteidigungslinien zu durchbrechen, kann es zu einer gewissen Dynamik kommen. Andererseits ist es aber offen, ob Russland für so einen Durchmarsch überhaupt genug ungebundene Kräfte hat. Aber ausschließen kann man es nicht. Die Ukraine hat außerdem weiter große Schwierigkeiten, genug Soldaten aufzubringen. Hinzu kommen die Luftangriffe auf die kritische Infrastruktur.

Dann gab es noch das Treffen Macrons mit Trump und Selenskyj in Paris am Rande der Notre-Dame-Wiedereröffnung. Ist das ein gutes Zeichen für die Ukraine?

Trumps Haltung ist nicht eindeutig. Mal sagt er, die Hilfe für die Ukraine werden zurückgefahren. Dann zeigt er wieder die Bereitschaft, Russland unter Druck zu setzen. Er erwartet wohl von beiden Seiten, sich zu bewegen. Er will offenbar eine Verhandlungslösung.

Trump behauptet, er könnte den Krieg in einem Tag beenden. Das glaubt ihm niemand, der sich damit auskennt. Aber kann er es vielleicht im Laufe des Jahres schaffen?

Ich glaube, die Chance war nie so groß wie jetzt, dass man zu einer Einigung kommt. Alles wird davon abhängen, wie Trump mit Putin zusammenkommt. Ein Deal scheint möglich. Eine Eskalation aber auch. Auch dafür ist die Chance so groß wie nie.

Warum das?

Sollte es zu einer Einigung kommen und Putin dann aber Trump hintergehen, könnte er aus der Emotion eine irrationale Entscheidung treffen. Das ist die Gefahr. Kommt es zu einer Einigung, ist natürlich die Frage: Was bleibt übrig von der Ukraine? Gehen die vier von Russland beanspruchten Oblaste und die Krim dann komplett an Russland? Wird es eine demilitarisierte Zone geben? Kommt die Ukraine in die NATO? Danach sieht es derzeit nicht aus.

Selenskyj sagte in Paris, erst 43.000 ukrainische Soldaten seien getötet worden. Kommt Ihnen das auch wenig vor?

Ja. Ich richte mich eher nach den Zahlen aus den USA. Zuletzt wurden 100.000 Tote und 400.000 Verwundete auf russischer Seite und 80.000 Tote und 400.000 Verwundete auf ukrainischer Seite gemeldet. Man muss dabei genau hinhören. Es gibt einen Unterschied zwischen "gefallen" und "vermisst". Klar ist: Beide Seiten haben massive Verluste erlitten. Das sehen wir auch daran, wie intensiv die Ukraine versucht, neue Soldaten zu rekrutieren.

Selenskyj zeigt sich mittlerweile verhandlungsbereit. Heißt das, er würde auch Gebiete aufgeben? Ist das nicht eine 180-Grad-Wende des ukrainischen Präsidenten?

Da ist der Realismus eingekehrt. Der setzt nicht erst seit dem Wahlsieg Trumps ein. Schon vorher bekam Selenskyj einigen Gegenwind, als er in Washington seinen "Victory Plan" vorgestellt hat. Offenbar verlangte schon die Biden-Administration realistische Ziele von ihm. Trump sagt das nur offener.

Wenn man nun alles zusammennimmt - Russland braucht Hilfe aus Nordkorea, kann Assad nicht im Amt halten, auch in Georgien läuft es nicht für Moskau, hinzukommen wirtschaftliche Probleme - ist da ein Ende des Krieges vielleicht näher als wir uns vorstellen können?

Möglich ist das durchaus. Möglich ist aber auch das Gegenteil. Russland hat mit China, Iran und Nordkorea noch immer starke Verbündete. Die USA haben einen neuen Präsidenten, der sein Land eher von der Weltbühne zurückziehen will. Die Ukraine würde ohne Hilfe zusammenbrechen und hat große Probleme, Soldaten aufzubringen. Es gibt verschiedenste Faktoren. Historisch gesehen war es meist so, dass dann einer dieser Faktoren den Ausschlag gegeben hat. Welcher das sein wird, das wissen wir jetzt noch nicht.

Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen

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