Autokraten sortieren die Welt neu, die liberale Demokratie steht infrage – doch in der Berliner Politikblase laufen die Machtrituale wie eh und je. Das ist gefährlich.
Das war ein Sonntagabend, wie er auch im vorigen Jahrtausend hätte stattfinden könnte. Die SPD gewann die Bürgerschaftswahl in Hamburg und darf erneut eine stabile Koalition mit den Grünen bilden, derweil ein paar Rechtspopulisten auf den Oppositionsbänken Platz nehmen dürfen.
Das Ergebnis ist der Freien und Hansestadt zu gönnen. Und es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie gut unter den richtigen Umständen das überkommene bundesrepublikanische Modell noch funktionieren kann.
Doch die wachsende Metropole Hamburg steht leider nicht repräsentativ für das gegenwärtige Deutschland – und schon gar nicht diese immer verrückter werdende Welt. Die Wahl war bloß die Ausnahme eines Trends, der endgültig alles infrage stellt, was über Jahrzehnte als gewiss erschien.
Eine wütende Frage
Und weil das so ist, formiert sich meinem Kopf eine wütende, an die Berliner Politikbetrieb gerichtete Frage: Geht's noch?
Ja, Journalist zu sein, das bedeutet aus meiner Sicht, nicht polemisch zu agitieren. Nicht billige Politikverachtung zu betreiben. Und, ganz schwer: nicht notorisch besserzuwissern. Und ja, natürlich weiß ich, dass ein parlamentarisches System in Wahlzyklen funktioniert und Macht eine natürliche Antriebskraft der Politik ist.
Dennoch fehlt mir inzwischen jedes Verständnis dafür, dass in Berlin mit dem bekannten Parteiprogramm weitergemacht wird – so, als sacke nicht die Weltordnung, in der wir uns gemütlich eingerichtet haben, vor unseren Augen in sich zusammen. Denn trotz aller dramatischen Verlautbarungen und intellektuell wertvollen Reden ist in der Hauptstadt alles wie gehabt.
Da sichert sich der SPD-Chef, der eine Rekordniederlage zu verantworten hat, an Tag 1 nach der Wahl die wichtigsten Posten in der Partei. Da sammelt der designierte Kanzler von der Union nur Stunden nach der Wahl ein prinzipielles Versprechen ein und sinnt öffentlich darüber nach, diesen Wortbruch noch mit dem alten Parlament umzusetzen. Und da sitzen die üblichen weißen und westdeutschen Männer beieinander, um sich die schwindende Macht aufzuteilen, die wieder nur bestenfalls vier Jahre halten wird.
Parallel dazu setzen sich die ermüdenden Diffamierungsrituale fort. Während die Linke nicht zwischen konservativ, rechts und rechtsextrem differenzieren will, kondensiert die Union die alte AfD-Propaganda von einem staatlich finanzierten Linksprotestsektor in einer länglichen Pseudoanfrage. Was für ein doofes und vor allem kontraproduktives Polarisierungsbingo.
Dabei erwarte ich gar nicht viel. Ich glaube nicht an politische Wunder. Ich verlange nicht, dass eine Bundesregierung eine Hochkonjunktur erzeugen, den Klimawandel ausbremsen oder gar den Krieg gegen die Ukraine beenden kann. Gleichzeitig akzeptiere ich, dass der nötige Kompromiss zwischen dem Anspruch, die Verfolgten dieser Erde aufzunehmen, und der real existierenden Integrations- und Sicherheitslage nicht nett werden wird.
Aber ich fordere als Bürger dieses Landes, dass die politische Klasse den Ernst der Situation nicht nur erkennt und beschreibt, sondern dass sie entsprechend ihrer Erkenntnisse und Beschreibungen entschlossen handelt. Es reicht längst nicht mehr, dass die Parteien aus interessengeleiteter Perspektive die Probleme benennen und sich gegenseitig mit Forderungen überziehen. Sie müssen diese Probleme auch lösen.
Und das geht, Überraschung, nur gemeinsam.
Theoretisch wissen ja alle Beteiligten längst, was auf dem Spiel steht. Nachdem in Moskau ein KGB-Zar die Geschichte zurückdrehen will, regiert nun in Washington ein neuzeitlicher Mad King, der das westliche Bündnis und dessen Werte infrage stellt. Während die Welt in eine neo-imperiale Ära stolpert, befindet sich Deutschland nicht nur in einer Rezession, sondern in einer wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Strukturkrise, die das Wohlstandsversprechen akut gefährdet.
Die liberale Demokratie ist in Gefahr
Nun war auch die Ampel – theoretisch – eine Fortschrittskoalition. Praktisch aber scheiterte sie, und dies vor allem an sich selbst. Deshalb sollten sich die künftigen Regierungsparteien endlich ihrer historischen Verantwortung bewusst werden. Dies hier ist die letzte Chance für die alte Ordnung, sich für das neue, gefährliche Zeitalter fit zu machen.
Und dafür muss man fast schon dankbar sein. Hätten bei der Wahl einige tausend Menschen mehr für das BSW gestimmt, hätten sie zusätzlich mit den Grünen koalieren müssen. Es wäre ein Desaster mit Ansage geworden.
Der Satz "Erst das Land, dann die Partei, dann die Person" ist inzwischen das "Vater unser" der Politik, das bei jeder halbwegs passenden Gelegenheiten gemurmelt wird. Nur ist die Reihenfolge leider umgedreht. Ja, es geht schon noch um das große Ganze, unbedingt – nur eben oft erst nach persönlichen Ambitionen und Parteiinteressen.
Die AfD will ein anderes System
Wie fatal dieses Verhaltensmuster in Krisenzeiten wirkte, konnte ich als Journalist über Jahre in Thüringen beobachten, wo unklare Mehrheitsverhältnisse die Landespolitik in eine zerstörerische Selbstblockade führten. Während die CDU nicht bereit war, ihr anti-linkes Dogma aufzuweichen, übte sich die rot-rot-grüne Minderheitsregierung in wohlfeilem Antifaschismus.
Auch dies hat die AfD immer stärker gemacht, eine Partei, die keine Alternative ist, sondern eine Ansammlung von Extremisten, Populisten und Karrieristen. Ihr Plan ist neben dem eigenen Fortkommen ein autoritäres, nationalistisches und, wie es Viktor Orbán offen sagt: illiberales System.
Deshalb sind sie auch jetzt, da Donald Trump demokratische Institutionen tatsächlich zu schleifen beginnt, plötzlich die allergrößten Transatlantiker. Was gerade in der am längsten existierenden Demokratie der Welt geschieht, ist das, was uns allen bevorsteht, wenn wir nicht dagegenhalten.
Nun gehörte ich nie zu den Menschen, die sich auf der Straße festkleben oder Fahnen auf Demonstrationen schwenken. Dafür war ich schon immer zu vernünftig, zu opportunistisch oder zu DDR-belastet. Oder alles auf einmal.
Ein kritisches und streitiges, aber faires Miteinander
Und mir war schon immer die von AfD, BSW und teilweise von der Linken bediente "Die-da-oben"-Demagogie zuwider. Doch wenn die aktuelle Elite den wachsenden anti-elitären Affekten begegnen will, muss sie sich besinnen und zusammenreißen.
Es ist bald 100 Jahre her, dass die Weimarer Republik vorführte, wie sich eine Demokratie selbst lähmt, um danach von extremen Kräften usurpiert zu werden. Inzwischen lässt sich längst nicht nur in Ostdeutschland beobachten, dass die damaligen Mechanismen auch heute noch wirksam sind.
Natürlich, wie gesagt, ich muss diesen Appell auch an mich selbst richten, an die Medien, an uns alle. Diese Demokratie kann sich nur selbst retten. Und ohne ein kritisches, streitiges, aber eben doch faires Miteinander wird es nicht gehen.
Aber dennoch darf, nein muss ich verlangen, dass die nächste Koalition nicht mehr engstirnige Parteipolitik betreibt, sondern sich rasch, pragmatisch, aber vor allem gemeinsam der größten Herausforderung stellt, vor der je eine Bundesregierung stand. In diesem Sinne lässt sich vielleicht doch noch vom schönen Hamburg lernen.
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