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Jens Spahn : Bald wieder Minister? Die unheimliche Wiederkehr des Provokateurs



Jens Spahn galt als politisch erledigt. Inzwischen aber ist der CDU-Mann in seiner Partei so wichtig wie lange nicht – auch weil er hart gegen Migranten austeilt. 

Es gibt Abende, da feuert Jens Spahn mehr Sprüche raus als andere Politiker in ihrer gesamten Karriere. So wie neulich im schwäbischen Backnang. „Bevor wir Bäcker aus Ghana holen, sollten wir die Leute hier durch die Ausbildung bringen“, ruft er. Applaus! 

Oder: „Für manche bist du schon rechtsextrem, wenn du sagst, es gibt zwei biologische Geschlechter.“ Gelächter! Oder: „Klimaleugner? Ich nenne die Grünen ja nur noch Migrationsleugner.“ Johlen!

Jens Spahns Blick geht durch die Reihen

Klare Sätze, einfache Feindbilder, bloß nicht zu viele Wenns und Abers. So läuft die Jens-Spahn-Show. Noch bevor der Applaus verhallt, kommt schon der nächste Spruch: „Entweder die demokratische Mitte beendet die illegale Migration oder die illegale Migration beendet die demokratische Mitte.“ Sein stechender Blick geht durch die Reihen. Haben das auch alle verstanden? Applaus, Applaus, Applaus. Verstanden.

Mehr als 60 solcher Auftritte absolviert Spahn in diesen Wochen vor der Bundestagswahl, eingeladen von anderen CDU-Abgeordneten. Sie wissen, wie gut er ankommt bei ihren Leuten, wie begeistert sie zuhören, mit welcher Freude er über Tabus hinweggeht, provoziert, bis es schmerzt. Es ist ein nahezu unglaubliches Comeback.

Spahn Interview 0.01Uhr

Jens Spahn war weg, eigentlich. Kein Minister mehr, kein wichtiges Parteiamt. Die Deutschen schienen durch mit ihm, die CDU erst recht. Aber er ist nicht weg, er reist quer durchs Land, spricht in Talkshows, schreibt Papiere für Parteigremien. 

Welche Agenda hat Jens Spahn? Wo will er hin?

Spahn, 44, ist wieder da. So sehr, dass manche in der CDU ein mulmiges Gefühl beschleicht: Welche Agenda hat er? Wo will er hin?

Entweder die demokratische Mitte beendet die illegale Migration oder die illegale Migration beendet die demokratische Mitte.

Zwei Wochen vor Weihnachten, im ICE1600 nach Hamburg. Ticketkontrolle. Spahn grüßt die Schaffnerin freundlich. Ein grimmiger Blick, grußlos geht die Frau weiter. Passiert ihm häufiger. Die meisten Deutschen kennen das Gesicht ihres Ex-Gesundheitsministers, markantes Kinn, kurzgeschorenes Haar, hellbraune Brille. 

Zu Beginn der Pandemie war er der populärste Politiker, irgendwann einer der meistgehassten. Überteuerte Maskendeals, Recherchen zur undurchsichtigen Finanzierung und dem raschen Verkauf seiner Berliner Nobelvilla, Spendendinner während der Pandemie, seine Freundschaft mit dem Trump-Vertrauten Richard Grenell. 

Spahn dachte ans Aufhören, macht jetzt umso stärker weiter

Andere Politiker hätten längst hingeworfen – oder hinwerfen müssen. Jens Spahn sagt: „Ich erreiche in diesem Leben keine Google-Bewertung von 100 Prozent mehr, das weiß ich.“

Nach der Wahl 2021 hat er ans Aufhören gedacht, hat sich befragt: Willst Du das noch? Jetzt tourt er wieder, schreibt spät abends SMS an Kollegen, eine neue Idee, ein Papier: Wirtschaft, Energie oder Migration. „Jens ist immer im Thema“, sagt ein Parteifreund. 

Ohne Ehrgeiz schafft man nicht mal das Seepferdchen.

Eigentlich ist Spahn als Vizechef der Bundestagsfraktion für Wirtschaft zuständig. Asylpolitischer Sprecher sei er im Ehrenamt, wird intern gescherzt. Sein Wiederaufstieg ist auch ein Beispiel dafür, wie leicht in der Politik derjenige überwintert, der die Gesetze der Öffentlichkeit beherrscht. Spahn tut das wie wenige sonst.

Was treibt diesen Mann an?

Wenn andere abends ihre Kinder ins Bett bringen, macht Jens Spahn noch Politik. „Spitzenpolitik dominiert das Leben, das ist so“, sagt er über sich selbst. Dieser eiserne Ehrgeiz ist es, der manchem in der Partei unheimlich scheint. Spahn zuckt mit den Schultern, sagt: „Ohne Ehrgeiz schafft man nicht mal das Seepferdchen.“ Wieder dieser durchdringende Blick. 

Jens Spahn spricht vor dem Neujahrsempfang des CDU-Kreisverbands Lingen/Ems in Niedersachsen mit Bürgern,  2024Er kann auch mal zuhören: Jens Spahn bei einem Neujahrsempfang der CDU in Niedersachsen.
© Noah Wedel

Was treibt ihn an? Eine bessere Welt? Reichtum? „Politik gibt dem Ganzen einen Sinn“, sagt Spahn. Dem Ganzen? „Mir", sagt er. "Ich will einen Unterschied machen."

Schon 2019 schrieb die ZEIT über ihn: „Mission kanzlern“. Es spricht wenig dafür, dass Spahn diese Mission aufgegeben hat – auch wenn jetzt erstmal Friedrich Merz dran ist. Spahn hat Zeit.

Merz Titelgespräch Heft 0200

Wer in der Unionsführung nach Spahn fragt, hört fast Rauschhaftes. „Ausnahmetalent!“, „Fleißig wie keiner sonst!“, „Unübersehbar!“ Neben den engen Merz-Vertrauten Carsten Linnemann, dem Generalsekretär, und Thorsten Frei, dem Fraktionsgeschäftsführer, wird Spahn für ein Ministeramt in der nächsten Regierung gehandelt. Schließlich hat er schonmal regiert. Das zählt. Merz selbst betrat Ministerien bislang nur als Gast.

Spahn könnte auch Fraktionsvorsitzender werden

Andere in der Partei glauben, Spahn selbst schiele auf den mächtigen Fraktionsvorsitz. Warum sonst die Tournee zu so vielen Abgeordneten? Der Job an der Fraktionsspitze würde mehr Eigenständigkeit bedeuten als ein Ministeramt, mehr politische Beinfreiheit, weniger Kabinettsdisziplin. Spahn bekäme so endlich, was er nie wirklich hatte: eigene Truppen.

Seine Gegner in der CDU wollen das verhindern. Sie misstrauen ihm, seiner Geschmeidigkeit einerseits, seiner unerbittlichen Härte andererseits.

Im ICE1600 nach Hamburg rührt Jens Spahn in seinem Kamillentee. Ein Mitarbeiter schaut auf seinem Handy, was in den sozialen Medien über seinen Chef geschrieben wird. Spahn guckt sich das seit seiner Zeit als Gesundheitsminister nicht mehr selbst an. Zu viele Hassnachrichten. Und heute? Ein Shitstorm, mal wieder.

„Von links oder rechts?“, fragt Spahn. „Links“, sagt der Mitarbeiter. Spahn lächelt. „Macht nichts.“

Für Syrer will er Charterflüge in die Heimat organisieren

Am Morgen hatte er im Fernsehen vorgeschlagen, dass die Regierung rückreisewilligen Syrer 1000 Euro spendiert und einen Charterflug. Erst am Vortag hatte der syrische Diktator Assad das Land verlassen, im Land wird weitergekämpft. Spahns Satz klang wie: Hauptsache weg! Er hatte das mal wieder ohne wenns und abers vorgetragen. Was soll’s, abwarten, Tee trinken.

Die Asyldebatte brodelt in Spahn, seit Jahren schon. Schon 2015 kritisierte er als erster führender CDU-Politiker die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, bemängelte damals eine „beinahe euphorische Darstellung“ in den Medien. „Wie viele kommen dann nächstes Jahr? Und wie soll Deutschland das auf Dauer aushalten?“, fragte Spahn. 

Einer, der ihn seit Jahrzehnten kennt, sagt: „Jens prescht oft vor, aber meistens setzt er sich irgendwann durch.“ Es scheint, als wäre Spahn nach seinem Intermezzo als Gesundheitsminister wieder ganz bei sich, als sei das Lösen der Asylfrage für ihn nicht Ehrenamt, sondern Lebensaufgabe – und sein Werkzeug zur Macht.

Jens Spahn erklärte seine Probleme mit arabischen Migranten

„Der erste Schritt ist, keine Leute mehr irregulär einfach einreisen zu lassen“, sagt er. Integration funktioniere in dieser Größenordnung nicht, schon gar nicht mit so vielen jungen, arabischen Männern. Nie? „Vielleicht in tausend Jahren.“ 

Spahn erzählt dann, wie vor dem Club, in den er als junger schwuler Mann feiern ging, heute wieder Security-Personal stehe, wegen der Schwulenfeindlichkeit vieler arabischer Männer, erzählt von einem Nachwuchspolitiker der CDU, der kürzlich von Migranten zusammengeschlagen wurde, erzählt, wie die Migrationsfrage die politischen Systeme von Frankreich und Belgien habe kollabieren lassen. Das ist seine Sicht. 

Wenn Jens Spahn redet, klingt das oft, als sei die Dystopie aus Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ längst Realität geworden, als stehe der Untergang des Abendlandes bevor.

Michel Houellebecqs Spiel mit ... Buch "Unterwerfung" (2164261)

Ein Autohaus in Bietigheim-Bissingen, wieder Schwaben, wieder so ein Spahn-Abend. Gerade hat er sein Programm runtergespult, jetzt: Fragerunde. „Unsere Migrationspolitik ist ein Irrenhaus“, schimpft ein Mann im Publikum. „Der einzige, den ich in der CDU noch ernst nehmen kann, das sind Sie“, ruft er. „Aber Sie sind ein einsamer Rufer!“ Für die einen kommt Spahns scharfer Kurs in der Migrationspolitik gerade recht. Er bindet rechte Wähler. So sehen es auch die Strategen im Konrad-Adenauer-Haus.

Spahn soll Wähler von der AfD zurückholen

Mitte Januar, bei der CDU-Vorstandsklausur erklärte eine Meinungsforscherin, die Union könne in diesem Wahlkampf etwa acht Prozent der Wähler der AfD zurückgewinnen. Ein Führungsmitglied scherzt später: „Für die ist Jens Spahn alleinverantwortlich.“ 

Kanzlerkandidat Merz darf die gesellschaftliche Mitte nicht zu sehr verschrecken, Spahn dagegen scheint die Rolle als Schreck aller Linken Spaß zu machen. „Die Gesellschaft ist heute so wenig links wie seit Jahren nicht mehr“, sagt er häufig. Wo er selbst früher noch weit rechts schien, ist er jetzt Mainstream, fast schon Avantgarde. Vorne rechts eben.

Mancher in der Union sieht in seinem rabiaten Kurs aber auch eine Gefahr – und Spahn selbst vielleicht eines Tages als das mögliche Scharnier zur AfD. Er sagt: Eine Zusammenarbeit mit der extremen Rechten sieht er derzeit als „Selbstaufgabe“. Aber kommt sie für ihn wirklich nie in Frage?

In Hamburg kommt Spahn als Feindbild

Ankunft in Hamburg. Spahn will an diesem Abend den CDU-Spitzenkandidaten für die Bürgerschaftswahl unterstützen. Die Veranstaltung findet im Hotel Reichshof am Hauptbahnhof statt, ein schmuckloser Saal, der Moderator nimmt sich Spahn gleich vor. „Sie sind heute also aufgestanden und haben gleich einen rausgehauen“, ätzt der er, „Assad ist gestern gestürzt und Sie wissen nichts besser, als heute zu fordern, wie alle hier verschwinden?“ Er habe ein „totales Störgefühl“, sagt der Mann. Applaus im Saal.

In der liberalen Hansestadt wirkt Spahn nicht wie der geliebte Provokateur sondern wie das perfekte Feindbild. Er scheint Freude daran zu haben, auch das ist eine seiner Eigenschaften. Spahn pariert die Vorwürfe, rattert Zahlen runter. Sollen doch alle gegen ihn stehen. Am Ende der Veranstaltung sagt eine Frau: „Ich bewundere ihr politisches Engagement und ihr Selbstbewusstsein sehr.“ Applaus. Stimmung gedreht.

Spahns Wiederkehr könnte aber jäh enden. 

Jens Spahns Problem heißt Nordrhein-Westfalen

Mit Merz und Generalsekretär Linnemann kommen schon zwei potenzielle Minister aus Spahns Landesverband Nordrhein-Westfalen. In der CDU zählt der Regionalproporz viel, andere Verbände werden auch Spitzenämter einfordern.

Die Union muss so stark werden, dass sie durchsetzen kann, was es braucht, um die Demokratie in ihrer Akzeptanz zu retten.

Sein Verhältnis zu Merz war lange Zeit schwierig. Noch immer wird sich in der Partei die Geschichte vom 21. September 2020 erzählt. Die Bild-Zeitung fragte Merz damals, ob er Vorbehalte gegen einen homosexuellen Mann als Bundeskanzler habe. Merz antwortete, die sexuelle Orientierung gehe die Öffentlichkeit nichts an, „wenn sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft“. 

Er kandidierte damals für den CDU-Vorsitz, Spahn unterstützte den Konkurrenten Armin Laschet. Spahn, verheiratet mit einem Mann, reagierte kühl: „Wenn die erste Assoziation bei Homosexualität Gesetzesfragen oder Pädophilie ist, dann müssen Sie eher Fragen an Friedrich Merz richten.“ Ist das Thema zwischen beiden wirklich ausgeräumt?

Spahn wird seine frühere Illoyalität vorgeworfen

Vergessen ist auch nicht, wie Spahn sich immer neuen Führungsfiguren anbot. Erst Wolfgang Schäuble, dann Angela Merkel, dann Armin Laschet, jetzt Merz. In Telefonaten erinnern Unionsleute daran, wie Spahn im Wahlkampf 2021 abseits der Öffentlichkeit Laschet schlecht geredet haben soll, hinter dessen Rücken sondierte, ob er ihn nicht ersetzen könne. 

Spahn besitzt in Berlin mehr Immobilien als bisher bekannt 7.10 Uhr

All das erklärt, warum man in der CDU nach der Wahl so fertig war mit ihm, warum dieses politische Supertalent so unten durch war. Er sei ein Teamspieler, heißt es noch heute – aber eben nur, solange alles seinen Zielen folge.

Aber ganz auf Spahn verzichten? Das wird Merz sich kaum leisten können. Seine Erfahrung, seine Popularität an der Basis, all das ist extrem viel wert. „Friedrich Merz kommt an ihm nicht vorbei“, sagt ein ranghohes Mitglied der Bundestagsfraktion. 

Ende Januar besucht Kanzlerkandidat Merz sogar Spahns Wahlkreis. Das ist schon ein Signal. Fragt man den 44-Jährigen selbst in diesen Tagen nach seiner politischen Zukunft, sagt er Sätze wie: „Ich bin lang genug dabei, um nichts auszuschließen.“

Für Spahn geht es in diesem Wahlkampf um alles

Die Jens-Spahn-Show, sie endet oft mit einem Gedankenspiel: „Das klingt jetzt ein bisschen verrückt“, sagt Spahn in Backnang und anderswo, „aber lasst uns doch mal drüber nachdenken – eine absolute Mehrheit bei dieser Wahl kann klappen.“ 

38 Prozent der Stimmen könnten dafür reichen, rechnet er vor. Und dann sagt Spahn: „Die Union muss so stark werden, dass sie durchsetzen kann, was es braucht, um die Demokratie in ihrer Akzeptanz zu retten.“

Es klingt, als rufe er zum Endkampf. Auch in eigener Sache.

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