1 day ago

Heikle Debatte nach Wahldebakel: Kein Herz für Gaza? Grüne stellen sich Nahost-Dilemma



Der Krieg im Gazastreifen war kaum Thema im Wahlkampf, obwohl er auch hierzulande viele umtreibt. Nun wollen sich die Grünen der Debatte stellen. Nach herben Stimmenverlusten können sie gar nicht anders.

Manchmal entzünden sich unversöhnliche Debatten schon an einem Stück Stoff. In diesem Fall: dem Palästinensertuch. Für die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger lasse sich eine solche Kufiya "nicht von der Geschichte des antisemitischen Terrors trennen", schreibt die 35-Jährige aus Bayern auf Instagram. Der Eintrag der eher unbekannten Abgeordneten zieht eine Welle von Kommentaren nach sich, die meisten wütend bis hasserfüllt. "Deshalb nie wieder Grüne", so der Tenor der Kritik vieler Nutzer, die dem Namen nach auffallend oft Migrationsgeschichte haben.

Auch Schönbergers Fraktionskollege Kassem Taher Saleh, 31 Jahre alt, widerspricht. "Die Kufiya ist kein Zeichen des Antisemitismus", sagt der Grünen-Politiker, der im Alter von zehn Jahren aus dem Irak nach Sachsen kam, "sondern der palästinensischen Kultur und ja, auch des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit." Antisemitischer Terror oder Widerstand gegen Ungerechtigkeit? Diese beiden Auffassungen lassen sich kaum miteinander versöhnen. Die Debatte ist für die Grünen auch deshalb so brenzlig, weil sie weit über die Kufiya hinausweist: Was ist die richtige Positionierung im Nahostkonflikt?

Bei grünen Spitzenkräften ist in den vergangenen Wochen die Auffassung gereift, dass das Thema bei der Bundestagswahl mehr geschadet haben könnte als sie bislang gedacht haben. Die Grünen verloren etwa 700.000 Stimmen an die Linkspartei, die am Ende bei muslimischen Wählerinnen und Wählern sogar stärkste Kraft wurde. Wen das Leiden und Sterben in Gaza besonders stark umtrieb, der fand sich bei den Grünen offenbar nicht wieder. An den Wahlkampfständen schlugen ihnen Enttäuschung bis blanke Wut eines Wählermilieus entgegen, dessen Stimme sie nach eigenem Selbstverständnis gerne wären. Die Leute seien bei dem Thema "ausgerastet", berichtet eine Grüne.

"Debatte verlangt viel Feingefühl"

Nun will die Partei sich um Klärung bemühen. Nur wie? Am Sonntag kommen die Grünen zu einem kleinen Parteitag zusammen, in einem Antrag zu diesem Länderrat stellt der Bundesvorstand die Frage: "Wie diskutieren wir über schwierige und polarisierende Themen, besonders den israelisch-palästinensischen Konflikt?" Eine maximal schwammige Formulierung. Die Grünen sind sich der Sprengkraft bewusst.

"Eine solche Debatte verlangt viel Feingefühl, klare Grenzen, und muss in vertrauensvollen Räumen fernab der aufgeregten Schlagzeilen stattfinden", sagt Grünen-Chefin Franziska Brantner. Nach dem 7. Oktober habe der Krieg in Gaza, der als Selbstverteidigung begonnen habe, "unermessliches Leid" in der Zivilbevölkerung verursacht. "Diese beiden Aspekte spiegeln sich auch in der deutschen Debatte wider, die zunehmend unversöhnlicher wird."

Darum liege in der Diskussion "große gesellschaftliche Spaltkraft", sagt die Politikerin vom Realo-Flügel der Partei, darum brauche es einen empathischen Austausch. "Dafür wollen wir als Partei wieder verstärkt den Raum geben - auch den leiseren und differenzierten Stimmen."

Keiner Seite recht gemacht

Kann das gutgehen? Die Grüne Jugend hält die Debatte für überfällig. Aus "Angst, sich die Finger zu verbrennen", hätten die Grünen, wie alle Parteien, das Thema vermieden, sagt Jakob Blasel, Vorsitzender der Nachwuchsorganisation. Die "Verstrickung der Grünen in die Bundesregierung" habe die Kommunikation einer klaren Haltung zu Gaza erschwert - "doch spätestens während der Bundestagswahl hätten wir deutlich sein müssen".

Blasel gibt zu bedenken, dass sich viele Menschen mit Migrationsgeschichte im deutschen Diskurs nicht wiederfänden. "Eine entschiedene Solidarität mit Israel, die nicht zur Debatte steht, darf nicht dazu führen, dass wir das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza aus den Augen verlieren und bei den Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee wegschauen."

Die Nahost-Zwickmühle der Grünen spiegelt sich vor allem im Wirken von Annalena Baerbock. Seit dem 7. Oktober versuchte die grüne Außenministerin mit reiseintensiver Pendeldiplomatie zu vermitteln. Immer wieder forderte sie die Netanjahu-Regierung zur Mäßigung auf und organisierte humanitäre Hilfen für den Gaza-Streifen. Zugleich engagierte sich Deutschlands Chefdiplomatin dafür, dass Israel nicht weiter isoliert wird.

Man habe versucht, das Thema "in der Mitte" zu halten, sagt eine Abgeordnete. Doch sowohl in Israel als auch in den arabischen Staaten sowie in Deutschlands propalästinensischer Community blieb vor allem eines hängen: Baerbock zeige zu viel Verständnis für die vermeintlich falsche Seite.

Vom hehren Wunsch ethischer Waffenlieferungen

Es handle sich nicht um einen Krieg zwischen Juden und Muslimen, sagt Taher Saleh, "sondern zwischen der Terrororganisation Hamas und der rechtsextremen Regierung von Netanjahu." Der Bundestagsabgeordnete erwartet mehr Mut zur Differenzierung: "Es darf und muss Kritik am Vorgehen Netanjahus in Gaza geben." Aber wie laut kann diese Kritik ausfallen, ohne denjenigen Rückenwind zu geben, die Israel ganz von der Landkarte tilgen wollen? Und was bedeutet das für die deutsche Nahostpolitik? Für Taher Saleh ist klar: "Waffenlieferungen einstellen, Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs respektieren und Palästina als Staat für eine Zweistaatenlösung anerkennen."

Schon am Waffenlieferverbot scheiden sich die Geister. Die Grüne Jugend fordert, keine Waffen mehr zu liefern, "die gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden können". So denkt auch die parteiinterne Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Frieden und Internationales. Die Grünen seien zum "Spagat" gezwungen, sagt BAG-Sprecher Peter Heilrath. "Wir wollen Israel als Heimstatt der Juden verteidigen und zugleich die Verletzung von Menschrechten anprangern."

Israel Waffenhilfe zu verweigern, käme Volker Beck niemals in den Sinn. Wenn Taher Saleh eine Seite des Parteispektrums vertritt, steht der Grünen-Veteran als Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft am anderen Ende. "Israel Waffen für seine Selbstverteidigung zu verweigern ist keine legitime Position", sagt Beck. "Israel ist seit 1948 der Angegriffene." Eine Aussage, die Widerspruch provoziert.

Zur Parteinahme gedrängt

BAG-Sprecher Heilrath sieht die Grünen - so wie die ganze deutsche Gesellschaft - in einer schwierigen Position. "Wer sehr radikal auf einer der Seiten steht, ist oft wahnsinnig schlecht informiert", sagt Heilrath. Der sachliche Austausch über strittige Aspekte ist entsprechend schwierig. "Wir als Grüne werden immer öfter zu einer einseitigen Parteinahme gedrängt, weil beide Seiten wenig Bereitschaft zeigen, sich in die Situation der anderen hineinzuversetzen."

Eine Klärung des Konflikts auf dem Länderrat sei nicht zu erwarten. Einigkeit besteht immerhin darüber, dass der Streit nicht in aller Öffentlichkeit geführt werden soll. "Wir brauchen ein geordnetes Verfahren für gesittete Debatten, in denen nicht die schrillsten Stimmen dominieren", fordert Volker Beck.

Schon die Festlegung, wer bei den Grünen die Debatte verantworten soll, birgt Konfliktpotenzial. Wenn es um den Nahen Osten geht, reichen eben oft schon Kleinigkeiten, um erbitterte Debatten zu entzünden.

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