Ex-Zentralbankchef Draghi empfiehlt der Europäischen Union, gemeinschaftlich Staatsschulden aufzunehmen. Das Bundesfinanzministerium winkt ab. Zu reflexhaft, findet unser Autor.
Fast täglich grüßt das Murmeltier, meist aus Berlin, zuletzt aus Brüssel. Mario Draghi, Italiens Ex-Ministerpräsident und ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, rät der EU zur Aufnahme neuer Schulden. Die Europäische Union solle sich am Finanzmarkt Geld leihen, es sogleich in ihre Wirtschaft pumpen, und diese damit ankurbeln. Richtig, rufen die einen, Frevel die anderen, darunter Christian Lindner. "Deutschland wird dem nicht zustimmen", verkündet der Finanzminister. Wer hat recht?
Ehrliche Antwort: Es kommt darauf an. Erstens, wofür das geliehene Geld eingesetzt wird. Und zweitens auf nichts weniger als eine politische Grundhaltung – die man beinahe auch Glaubensfrage nennen kann.
Staatsschulden gelten in Deutschland seit mindestens 100 Jahren als gefährlich. Zu viele davon können zu horrender Teuerung führen, zum Aufweichen bis Zerfall von Währungen, zum Staatsbankrott. Stimmt alles, alles auch immer wieder vorgekommen in der Welt, aber extrem weit entfernt vom Jetzt der Bundesrepublik. Unser Schuldenverständnis ist dennoch zutiefst davon geprägt. Schulden gelten als Lasten. Und die mag man eher nicht. Eine Sicht, die im Privaten durchaus hilfreich sein kann, hätte in strenger Konsequenz für den Staat fatale Auswirkungen.
Was ist gut, was schlecht?
Laufende soziale Leistungen wie Renten oder Grundsicherungen gegen Armut mit staatlichen Krediten zu bezahlen, gilt unter Ökonomen als verwerflich. Denn das geliehene Geld würde schlicht aufgebraucht. Nichts Werthaltiges, weiter Nutzbares für die Gemeinschaft bliebe übrig. Außer Zins und Tilgung. Schlechte Schulden.
Gut finden im Gegensatz dazu die allermeisten Volkswirte Staatsschulden zum Beispiel für den Bau und die Reparatur von Infrastruktur, also zum Beispiel für Wasser-, Schienen- und Straßenwege. Denn davon profitiert wirtschaftlich die ganze Gesellschaft über einen langen Zeitraum. Zins und Tilgung für solche Kredite sollten dadurch leichter fallen. Gute Schulden.
Über diese vereinfachte Gut-Schlecht-Sicht besteht sehr weitgehend Einigkeit. Auch in Berlin. Ginge es allein nach Christian Lindner, dem liberalen Bundesfinanzminister, wäre damit auch schon fast alles zum Thema Staatschulden gesagt. Ein Sonderkredit zur Wiederbelebung der Bundeswehr ist in dieser Denkweise in Ordnung. Denn die Riesensumme, die so etwas kostet, lässt sich nicht allein aus den alljährlichen Steuereinnahmen bezahlen. Und alle sollen langfristig etwas davon haben, nämlich mehr äußere Sicherheit. Also gute Schulden. Rein ökonomisch betrachtet. Alles weitere, so die radikal-liberale Grundhaltung, müsse der Staat bitte schön mit dem Geld bezahlen, das über die Steuer reinkommt. Weitere Schulden also schlechte Schulden? Nicht unbedingt.
Schulden als Anschub
Das ultraliberale, stellenweise auch konservative Schuldenverständnis hat nämlich einen Haken: Lahmt die Wirtschaft anhaltend, nimmt der Staat weniger Steuern ein. Eine Wirtschaftskrise kann sich dadurch zu einer gesellschaftlichen Krise ausweiten. Genau an dieser Stelle kommt die politische Grundhaltung ins Spiel: Während Wirtschaftsliberale in solcher Lage auf staatliche Sparsamkeit – Lindner nennt es "Priorisieren" –, Bürokratie-Abbau und gar Steuersenkungen zur Wiederbelebung setzen, empfehlen Ökonomen der Denkschule von Mario Draghi darüber hinaus zusätzliche Schulden, eben speziell zur Ankurbelung der Wirtschaft.
Solche Kredite ließen sich in besseren Zeiten erträglich zurückzahlen. Und: flösse solch eine Anschubfinanzierung in wirtschaftlich vielversprechende Themen, wie etwa ökologische Modernisierung oder digitale Infrastruktur, käme langfristig für alle ein enormer Nutzen heraus. Siehe da: es können gute Schulden sein.
Staatsschulden: Das deutsche Dilemma
Genau diesen Weg hat zum Beispiel die US-Regierung unter Joe Biden beschritten. Auch Christian Lindner ist wohl gedanklich, zumindest aber politisch, ein gutes Stück mitgegangen. Bis das Bundesverfassungsgericht ihn und seine Koalitionspartner unsanft stoppte: Der Umgang mit einigen Sonderkrediten war nicht rechtens. Und so wurden gute Schulden beinahe über Nacht zu schlechten. Denn die Bundesrepublik darf nur in exakt erklärten Notlagen, in Mega-Krisen, über eine selbstverordnete Grenze hinaus Kredite aufnehmen. "Schuldenbremse" nennt sich das.
Der große Bluff - Haushalt 15.09
Mario Draghi sieht eine solche Notlage der europäischen Wirtschaft, mithin auch der deutschen, nämlich abgehängt zu werden von den USA und China. Für Christian Lindner bislang zumindest kein Grund, mehr Schulden zu machen. Auch keine guten. Harter, fast täglicher Streit über die Verteilung der begrenzten Steuermittel programmiert. Zum Leidwesen seiner Koalitionspartner von SPD und Grünen. Und nun?
Entweder es findet sich im Bundestag eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die die grundgesetzliche Schuldenbremse reformiert, so, wie bei ihrer Einführung vor 13 Jahren. Kurzfristig sehr unwahrscheinlich. Oder die stotternde Wirtschaft, also letztlich wir alle, müssen weitgehend ohne neue staatliche Anschubkredite gegen internationale Konkurrenz klarkommen. Mit offenem Ausgang. So besehen ist Mario Draghis Idee, gute Schulden als Europäische Union zu machen, womöglich gar nicht so schlecht. Zumindest sollte ein Bundesfinanzminister nicht reflexhaft abwinken.