4 months ago

Zum Wochenende: Firefox schafft den Sündenfall



Mozilla büsst weitere Web-Credibility mit der Version 128 von Firefox ein. Die ungefragte Einführung von Kohorten-Tracking, stösst ab.

Herr Tux noch mal. Da fährt man zwei Wochen in die Ferien, um danach die Freie Welt in Schutt und Asche wiederzufinden. Nein, ich meine nicht Crowdstrike. Ganz so schlimm ist es nicht; es betrifft nur das Abdriften von Firefox in das Reich der Werbeindustrie, wie Lioh und ich es bereits in unserer Podcast-Folge CIW092 - Ist Firefox am Ende? geunkt haben.

Obwohl es sich hier um einen Meinungsartikel handelt, möchte ich zuerst einmal die Fakten auf den Tisch legen:

  • Am 16. Juni 2024 kündigt Mozilla an, die Firma Anonym gekauft zu haben. Diese Firma bietet ein "privacy-preserving digital advertising"-Modell an. Ich gehe später darauf ein, worum es sich dabei handelt.

  • Knapp einen Monat später, am 9. Juli 2024, erscheint die Version 128 von Firefox. Unter anderem ist darin die Funktion Privacy-Preserving Attribution (PPA) enthalten. Dabei handelt es sich um eine Opt-out Funktion; die standardmässig eingeschaltet ist.

Obwohl die Nutzerzahlen von Firefox per Juni 2024 bei schlappen 6.5 % (Desktop), bzw. bei 2.7 % (alle Plattformen) liegen und weiterhin fallen, ist der Browser (zumindest in der Community) aufgrund seiner Einstellmöglichkeiten zum Schutz der Privatsphäre, beliebt. Ausserdem ist es einer der wenigen verbliebenen Webbrowser, der nicht auf Googles Blink-Engine setzt, sondern mit Gecko einen eigenen Renderer verwendet. Bisher hat die hinter dem Browser stehende Mozilla-Foundation den Nimbus einer Organisation gehabt, die sich für die Anwender:innen einsetzt und Funktionen liefert, die dem Schutz der Nutzer dienen. Damit könnte nun Schluss sein.

In den Technologie-Medien wurde ausschliesslich negativ über diesen Schritt berichtet (zumindest habe ich keinen einzigen positiven Artikel gefunden). Dabei bezieht sich der Unmut gleich auf mehrere Punkte:

  • Mit Firefox 128 wurde die PPA-Funktion ungefragt an die Anwender:innen ausgeliefert.
  • Die Funktion ist als opt-out konstruiert, sodass sie standardmässig aktiviert ist.
  • Mozilla hält die Anwender:inn für zu dumm, um die Funktion als opt-in anzubieten.
  • Viele sehen PPA als Resignation bzw. Zusammenarbeit mit der Werbeindustrie.

Doch was macht die Privacy-Preserving Attribution (PPA) überhaupt? Firefox begründet die Einführung der Technik mit dem Ziel, eine Alternative zur herkömmlichen Tracking-Werbeindustrie zu schaffen und damit die Privatsphäre zu schützen. Die jetzt eingeführte Software misst, wie oft eine Werbung dazu führt, dass jemand auf die Seite des Werbetreibenden geht. Dieser Indikator ist für die Werbetreibenden von Bedeutung, um die Erfolgschancen einer Werbung zu beurteilen.

Das Projekt erklärt, dass die Funktion weniger Privatsphäre für die Nutzer:innen bedeute, aber eine grössere Anzahl von Nutzern den Datenschutz erhöhe, weil sich Personen in einer grösseren Menge verstecken könnten. Mozilla behauptet, dass Werbetreibende nur erfahren, was viele Menschen in einer Gruppe anklicken. Die Nutzer würden insgesamt profitieren, da weniger Privatsphäre-basierte Werbung möglich sei.

Aufgrund der negativen Berichterstattung hat sich der Firefox-CTO Bobby Holley auf Reddit zur Sache geäussert. Hier sind seine wesentlichen Argumente:

Kommunikation
Im Nachhinein ist klar, dass wir in dieser Angelegenheit mehr hätten kommunizieren sollen.

Begründung für PPA
Unsere bisherige Herangehensweise an dieses Problem (Anm.: Überwachung im Internet) bestand darin, browserbasierte Anti-Tracking-Funktionen bereitzustellen, die die gängigsten Überwachungstechniken vereiteln sollen.

Es gibt in Ermangelung von Alternativen enorme wirtschaftliche Anreize für Werbetreibende, zu versuchen, diese Gegenmaßnahmen zu umgehen, was zu einem ständigen Wettrüsten führt, das wir möglicherweise nicht gewinnen können.

Opt-out
Die meisten Nutzer akzeptieren einfach die Vorgaben, die ihnen gemacht werden, und das Problem als eine Frage der individuellen Verantwortung darzustellen, ist ein guter Weg, um versierte Nutzer zu beschwichtigen ...

Motiv
Wir haben dabei mit Meta zusammengearbeitet, denn jeder erfolgreiche Mechanismus muss für Werbetreibende tatsächlich nützlich sein, und etwas zu entwickeln, mit dem Mozilla und Meta gleichzeitig zufrieden sind, ist ein guter Indikator dafür, dass wir das Ziel erreicht haben.

Hinweis: ich empfehle, die gesamte Begründung des Firefox-CTOs zu lesen.

Aus den Argumenten geht hervor, dass das opt-out der PPA-Funktion eine bewusste Entscheidung war. Ich mutmasse, dass ein opt-in zu wenig Daten für die Werbeindustrie generieren und somit auch den finanziellen Interessen von Mozilla entgegenstehen würde. Die Funktion befindet sich zurzeit in einem Prototyp-Stadium. Die übertragenen Daten über das individuelle Nutzerverhalten landen im Moment auf Mozilla eigener Infrastruktur. Wann diese Daten an einen Aggregationsserver weitergeleitet werden, ist noch offen.

Nach meiner Meinung hat Mozilla mit dieser Aktion ihre Glaubwürdigkeit als Softwareanbieterin verloren, für die der Schutz der Privatsphäre im Vordergrund steht. Die Begründung von Bobby Holley klingt nach einem Einknicken vor der Werbeindustrie und einem weiteren Versuch, die Finanzsituation zu verbessern. Durch das opt-out möchte man die PPA-Funktion möglichst unauffällig an der Kenntnisnahme der meisten Anwender:innen vorbeimogeln. Damit hat Mozilla wohl den grössten Reputationsschaden ihrer bisherigen Geschichte angerichtet.

Wer aus Mangel an Alternativen weiterhin den Firefox-Browser verwenden möchte, kann die PPA-Funktion ausschalten. Dazu entfernt man in den Einstellungen unter Datenschutz & Sicherheit den Haken bei Websites erlauben, datenschutzfreundliche Werbe-Messungen durchzuführen. Dass man ausserdem einen Werbeblocker installiert hat, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Bei der Android-Version von Firefox kann die Funktion nicht über die Benutzeroberfläche ausgeschaltet werden.

Ich bin auf eure Kommentare gespannt. Wie seht ihr das? Alles halb so wild; man kann es ja abschalten. Oder fühlt ihr euch verraten und verkauft?

Titelbild: KI-generiert, Stable Diffusion, "A fox reading adverts"

Links:

https://blog.mozilla.org/en/mozilla/mozilla-anonym-raising-the-bar-for-privacy-preserving-digital-advertising/

https://support.mozilla.org/de/kb/privacy-preserving-attribution

https://gs.statcounter.com/browser-market-share

https://www.heise.de/news/Firefox-verteidigt-sich-Alles-richtig-gemacht-nur-schlecht-kommuniziert-9802473.html

https://netzpolitik.org/2024/privatsphaere-firefox-sammelt-jetzt-standardmaessig-daten-fuer-die-werbeindustrie/

https://old.reddit.com/r/firefox/comments/1e43w7v/a_word_about_private_attribution_in_firefox/


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