Wir springen nach!
Bei mir nimmt das Thema Messenger-Wechsel zurzeit einen grossen Stellenwert ein, was ihr an meinen letzten Artikeln ablesen könnt. Wenn es um Social Media geht, kommt regelmässig der Netzwerkeffekt zum Tragen. Die genaue Erklärung dieses Effekts könnt ihr im vorherigen Link nachlesen. Umgangssprachlich kennt man ihn auch als:
Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.
Dieses Sprichwort ist eng mit dem sogenannten Matthäus-Effekt verbunden. Dieser besagt, dass:
Wer hat, dem wird gegeben.
Also, dass kleine Anfangsvorteile durch positive Rückkopplung zu immer grösseren Vorteilen führen können. Erfolgreiche oder privilegierte Personen oder Gruppen ziehen weiteren Erfolg und Vorteile an, während weniger Begünstigte oft weiter zurückfallen. Ich könnte diesen Artikel jetzt auf die sozial-ökonomische Schiene ziehen, in dem ich auf die ungerechte Kapitalverteilung in westlichen Staaten (die Schere zwischen Arm und Reich) hinweise, doch darum geht es heute nicht.
Mir geht es um den Matthäus-Effekt im Habitat der Software. Dieser Effekt zeigt sich bei Betriebssystemen:
Alle verwenden MS-Windows, weil alle MS-Windows verwenden.
Hierin manifestiert sich der Denkfehler, dass Quantität die Qualität besiegt. Wenn alle bei Microsoft kaufen, werde ich nicht entlassen, wenn ich auch bei Microsoft kaufe. Wenn alle MS-Windows verwenden, muss es doch das beste Betriebssystem sein. Wenn alle Lemminge über die Klippe springen, springe ich auch über die Klippe.
Netzwerkeffekte sind häufig die Grundlage der Monopolisierung und sie bewirken schlussendlich das Gegenteil von dem, was man ursprünglich im Sinn hatte (oder auch nicht). Die Firma Alphabet (Google u. a.) ist ein gutes Beispiel dafür.
Im September 1998 brachte Google ein neues Konzept für eine Internet-Suchmaschine auf den Markt, das den bis dahin verzeichnisorientierten Suchen überlegen war. In den folgenden 27 Jahren hat sich Google zu einem Monopolisten entwickelt, und zwar auf mehreren Ebenen:
- Mobiles Betriebssystem (Android)
- Internet-Suche (Google Search)
- Video-Plattform (YouTube)
- Werbe-Plattform (Google Ads)
- Landkarte (Google Maps)
- Internet-Browser (Blink, Chrome)
- Quasi-Standardisierungsgremium für das Internet
In Kürze werden wir vielleicht erleben, wie Google in mehrere Teile aufgespalten wird. In den USA sind die politischen Meinungen und die gerichtlichen Verfahren eine ausgemachte Sache; lediglich das Gerichtsurteil fehlt noch. Auch die Europäische Union ist überzeugt, dass die Marktmacht von Google einen kritischen Wert überschritten hat. Damit einher geht vermutlich auch ein Verbot der Querfinanzierung von Konkurrenten, wie Apple und Mozilla. Mozilla macht einen überwiegenden Teil (85 %) ihres Umsatzes durch die Einnahmen von Google dafür, dass in Firefox die Google-Suche als Standard gesetzt ist. Falls diese Einnahmen entfallen, bedeutet das wahrscheinlich das Ende von Firefox.
Wenn du eine äusserst erfolgreiche Firma bist und dir über deine Monopolstellung im Klaren bist und du eine Zerschlagung durch Kartellbehörden befürchtest, machst du was? Du erschaffst eine künstliche Wettbewerbssituation, indem du die vermeintlichen Wettbewerber finanziell unterstützt. Für Apple ist das kein Problem, aber für Mozilla bedeutet es das Ende.
Ich schweife vom Thema ab, weil ich stattdessen die andere Seite betrachten möchte. Die Bildung von Monopolen, Kartellen und marktbeherrschenden Stellungen hängt im Wesentlichen von zwei Dingen ab:
- Eine Firma hat ein gutes Produkt, welches vom Markt angenommen wird.
- Die Konsumenten kaufen oder nutzen dieses Produkt (um jeden Preis).
So weit, so simpel. Schwierig wird es, wenn die Kunden ihrer marktregulierenden Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Die Kunden (also ihr alle) versagen, sobald der Netzwerkeffekt überbordet und ihr in die goldenen Gärten eingetreten seid, aus denen ihr nie wieder entfliehen könnt. Ihr kennt viele Beispiele für euer persönliches Marktversagen:
- wenn du den Begriff "googeln" verwendest
- wenn du Netflixst
- wenn die Mehrzahl deiner Bekannten bei WhatsApp ist
- wenn du sagst: "lass uns mal ein Doodle machen"
Es gäbe noch hunderte weitere Beispiele, warum du als Marktteilnehmer:in versagst. Es gibt zwei mögliche Antworten auf meinen Vorwurf an dich:
- Interessiert mich nicht; ich habe andere Probleme.
- Da ist doch keiner!
Die erste Antwort lasse ich gelten. Die zweite Antwort zeigt zumindest, dass du darüber nachgedacht hast, wenn auch nur indirekt. "Da ist doch keiner" ist eine Opfer-Haltung. So redet jemand, der fremdbestimmt sein möchte. So reden Lemminge.
Kurze Zwischenbemerkung: Das ist ein "Zum Wochenende"-Artikel. Das sind Meinungs-Beiträge, die bewusst auf die Torte hauen, bzw. euch diese Torte ins Gesicht werfen sollen. Sie sollen aufrütteln, provozieren und zu Reaktionen führen.
Ja Ralf, das wissen wir und wir fühlen uns nicht beleidigt. Schreib weiter und komm endlich zum Punkt!
Mut zur Freiheit
Ich empfehle euch, dem Konformismus eine Abfuhr zu erteilen. Betet nicht zu den gleichen Götzen, sondern seid eure eigenen. GNU/Linux.ch führt nicht umsonst "Freie Gesellschaft" im Untertitel. Eine freie Gesellschaft ist eine diverse Gesellschaft, die jeden Tag neue Ideen hat und neue Sachen ausprobiert. Ein Beharren auf Gewohnheiten (Windows, Google, WhatsApp, ChatGPT) macht euch langweilig, unreflektiert und zu keinem Antrieb für eine freiheitlich demokratische Gesellschaft.
Handlungsanleitungen
Ja ja, grosse Worte und nichts dahinter, höre ich euch denken. Bitte schön:
- Wer in einer Organisation beschäftigt ist, die euch zur Benutzung von MS-Windows zwingt und ihr unter 40 Jahre alt seid: kündige den Job und such dir einen Freieren.
- Wenn alle anderen WhatsApp verwenden, dann stelle deine Person in den Vordergrund und nicht die Technologie. Mache alternative Angebote für die Kommunikation und betone die gesellschaftliche Wichtigkeit und deine Bedürfnisse. Schlage mehrere Messenger vor.
- Falls jemand mit einer Doodle-Umfrage zur Terminfindung kommt, dann weise diese Person höflich darauf hin, dass du diese Verletzung deiner Privatsphäre ablehnst. Biete stattdessen Nuudel als bessere Alternative an. Bei meinem Arbeitgeber steht das mittlerweile in den IT-Richtlinien.
Ich könnte noch viele konkrete Handlungsanleitungen nennen, aber letztlich geht es immer um dasselbe. Konformismus ist schädlich für Demokratien und für eine freie Gesellschaft. Lasst euch von Big Tech nicht einlullen. Es gibt Themen in der heutigen Gesellschaft, die begeistern, die hip sind, die dir Street-Credibility verschaffen. Fragt mich nicht, welche es sind; dafür bin ich zu alt. Aber es gibt Trends:
- Thrifting
- Fluidity
- Upcycling
- und mehr
Wo sind die Leute, die mit einem Fediverse-Shirt als "latest fashion" herumlaufen? Warum werden Windows-Anwender nicht mit Fleisch-Essern auf eine Stufe gestellt? Warum werden Instagrammer und WhatsApper nicht mit Benzin-Verbrennern verglichen? Ich weiss warum: weil die Bequemlichkeit immer über die Mündigkeit siegt.
Titelbild (Public Domain, KI-generiert): https://stockcake.com/i/cliff-jumping-adventure_1377538_394496
Quellen: im Text
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