Ein grüner Spitzenbeamter darf Privilegien für das Melden von Inhalten im Netz vergeben, die "trusted flagger". Es ist ein Rezept zur Entfremdung zwischen Bürger und Staat.
Die Bundesnetzagentur in Bonn hat kürzlich einen sogenannten trusted flagger zugelassen, also einen "vertrauenswürdigen Hinweisgeber" auf Desinformation und Hatespeech im Internet. Dabei verkündete sie: "Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden."
Die Aufregung ist groß: Je nach politischem Temperament rufen Kritiker "Zensur", "DDR", "Blockwart" und "Meinungsdiktatur", "Netzdenunzianten" (AfD, Stephan Brandner), "grüne Zensuranstalt" (FDP, Wolfgang Kubicki). Sie sehen EU-Technokraten am Werk und fordern deren Abschaffung - also der Technokraten samt EU. Die Bundesnetzagentur ruderte später zurück.
Man könnte geradezu Mitgefühl entwickeln für den nun gescholtenen Gesetzgeber, für die Behörde in Bonn, aber ich schaffe das nicht. Denn diesen Shitstorm haben sich die Regierungen in Brüssel und Berlin selbst eingebrockt. Dieses Gesetz ist an Abgehobenheit und Regulierungskälte kaum zu überbieten.
Petzen mit Privilegien
Der Lärm war komplett vorhersehbar. Das Gesetz, um das es geht, erlaubt die Einrichtung von trusted flaggern, die im Internet so genannten Hass und so genannte Hetze aufwischen sollen. Es sind private Institutionen und sie melden das, was in diese Kategorien fällt, den Plattformen wie X oder Facebook. Dort kümmert man sich dann bevorzugt um genau diese Meldungen.
"Petzen mit Privilegien" wäre auch ein schöner Name und nicht viel schlechter als trusted flagger. Denn "vertrauenswürdiger Hinweisgeber" wirft die Frage auf: Was sind dann die anderen alle, also wir? Vertrauensunwürdig? Stolpert im Gesetzgebungsprozess denn wirklich niemand bei diesen Begriffen, hält inne, sagt, hm, sollen wir den Mist wirklich so in die Öffentlichkeit lassen?
Manchmal schreibe ich Texte für ein winziges Publikum, Leute nämlich, die sich für digitale Regulierung interessieren. So schrieb ich über das "digitale Dienstegesetz", das trusted flagger vorsieht, in der FAZ vom Juli 2023:
"Das neue Gesetz ist einigermaßen unübersichtlich. Und das ist ein erhebliches Problem für die Demokratie: Die rechtliche Komplexität führt geradezu in die Undebattierbarkeit. (...) Sobald aber erste Fälle des Durchgriffs bekannt werden, dürften sich viele Menschen fragen: Wer entscheidet eigentlich gerade darüber, was ein guter Diskurs ist und was ihm schadet?"
Genau das ist jetzt passiert - nur, dass Anlass nicht der Durchgriff, sondern die Ernennung des ersten trusted flagger war. Wieso merken das ein paar versprengte Juristinnen und Juristen, aber nicht Hunderte hochbezahlte Beamte in Brüssel, Berlin und den Hauptstädten anderer EU-Staaten?
Alles halb so wild!
Eilfertig wird nun allenthalben beschwichtigt: Alles halb so wild, schließlich entscheidet nicht die Regierung, sondern die Plattform, ob eine gemeldete "Hetze" oder gemeldeter "Hass" entfernt wird oder nicht. Und es ist ja nur wirklich Illegales gemeint!
Das ist eine Nebelkerze. Das Problem dieses trusted-flagger-Gesetzes ist nämlich ein anderes: Der Staat kann dank dieses gigantischen Regelwerks nun an mehreren Stellen erheblichen Druck auf Plattformen ausüben, damit diese ihre Kommunikationsregeln verschärfen - deutlich über das Maß hinaus, mit dem der Staat regulieren könnte.
Wenn dann ein trusted flagger Alarm schlägt und die Plattform, um sich Ärger zu ersparen, Inhalte über Gebühr einschränkt, führt das womöglich zu Empörung. Dann werden staatliche und staatsfreundliche Sprecher erklären, es sei doch lediglich die Plattform, die ihre eigenen Regeln verschärft - und dass diese Regeln auf staatlichen Druck fester gezurrt werden, fällt unter den Tisch. So funktionierte schon das deutsche "Netzwerkdurchsetzungsgesetz".
Das alles ist kompliziert, deshalb wurde es nicht debattiert - wie schon vor einem Jahr gesagt. Jetzt ist es da und so unverrückbar wie die meisten EU-Gesetze, wie etwa auch die Datenschutzgrundverordnung. Ein Gesetz, so kompliziert, dass es kaum jemand versteht, regelt das, was jedem Menschen am nächsten ist: die Sprache. Das ist einfach nicht richtig.
Diese Non-Chalance, mit der Diskurswächter ernannt werden, ist ein Fest für aufstrebende Nationalisten und Rechtsextreme in Deutschland und Europa, also die größte politische Gefahr des Kontinents. "Zensur", Volksferne, übergriffige EU – diesmal bekommen sie für ihre Parolen die Belege frei Haus. Auch das war vorhersehbar.
Riskiert man diesen Debattendrift wenigstens für ein gutes Ziel? Was bringen die trusted flagger eigentlich? Die Antworten sind nebulös: Was Hass und Hetze sind, liegt meist im Auge des Betrachters - um pures Strafrecht geht es allen Bekundungen zum Trotz längst nicht mehr. Der Leitfaden unzulässiger Inhalte der Bundesnetzagentur enthält wolkige Beschreibungen, keine Normen des Strafrechts. "Informationsmanipulation" mit dem Ziel der Wahlbeeinflussung gibt es natürlich reichlich. Aber auch hier ist längst nicht klar, ob, erstens, die Menschen wirklich alles glauben was sie sehen, und, zweitens, ob sie damit aufhören, wenn der Staat eingreift, sei es mittelbar.
Falschinformation, das sind die anderen
Vielmehr tröpfelt Informationsmanipulation oft auch aus den Spitzen der Macht - und wird mit Mitteln des Meinungsmarktes bekämpft. Beispiel: Diese Woche log - es lässt sich nicht bemänteln - SPD-Berufsrabauke Ralf Stegner auf X. Er erfand ein Zitat von Friedrich Merz. "Ich werde den Ukrainekrieg in wenigen Tagen beenden", habe der CDU-Vorsitzende gesagt, twitterte Stegner. Das war falsch. Es war manipulativ. Es zielte auf die Nichtwahl der CDU und ihres Kanzlerkandidaten.
Daraufhin griff, ganz behördenlos, eine Maßnahme, die - Schreck, oh, Schreck! - ausgerechnet der Milliardär, Trump-Unterstützer und X-Eigentümer Elon Musk eingeführt hatte: Die "Community Notes". Das sind Beipackzettel, die andere Nutzer unter einen fragwürdigen Post schreiben können. Da stand dann (richtigerweise) "Merz hat dies nie behauptet", gefolgt von einer Erklärung. Merz sprach nämlich nur von einem Ultimatum, nach dessen Ablauf weitreichende Waffen geliefert werden sollten.
Stegner twitterte dann noch etwas süffisantes über dieses "Shitstörmchen" (Stegner), versuchte sich herauszureden - und kassierte noch eine "Community Note". Richtig so.
Das scheint also eigentlich ganz gut zu funktionieren. Es beklagt sich angesichts der Community Notes, soweit ersichtlich, niemand über DDR und Meinungsdiktatur. Es wird niemand erhoben und privilegiert, es mischt auch kein grüner Behördenchef mit.
Hasssuppe gehört zur Demokratie
Klar: Musk hat - nebst anderer Faktoren - geholfen, Twitter in eine Hasssuppe zu verwandeln. Wer Raketen aus dem All mit einem Roboterarm auffängt, ist nicht unbedingt geboren, einen Kommunikationsraum zu verwalten.
Aber: So ekelhaft Hasssuppe schmeckt, sie steht durchaus auf dem üppigen Speiseplan der Demokratie. Zu der kann es sogar gehören, wie kürzlich ein Dortmunder Amtsrichter entschied, dass ein Mann regelmäßig vor einem Staatsgebäude laut seinen Unmut in die Welt schreit. Das ist Freiheit: Die Grenzen zieht das Strafrecht. Dieser Amtsrichter und Elon Musk verstehen mehr vom Wert der Meinungsfreiheit als Gesetzgeber in Brüssel und Behörden in Bonn.
Man fragt sich, was mehr spaltet: Die "Hetze" im Netz oder dieses Gesetz.