Nach dem jüngsten Telefonat mit Wladimir Putin hagelte es Kritik für Olaf Scholz – auch von Wolodymyr Selenskyj. Jetzt besucht der Kanzler den Präsidenten im Krieg.
Ankunft nach rund neun Stunden Zugfahrt: Bundeskanzler Olaf Scholz ist am Montag zu einem Besuch in der Ukraine eingetroffen. Wie immer war die Reise aus Sicherheitsgründen nicht angekündigt worden. Um 8.33 Uhr Ortszeit empfingen der deutsche Botschafter Martin Jäger und der ukrainische Vize-Außenminister Oleksandr Mischtschenko den Kanzler auf Gleis 14 am Bahnhof in Kiew.
Die Ukraine verteidige sich seit mehr als 1000 Tagen "in heldenhafter Weise gegen den erbarmungslosen russischen Angriffskrieg", sagte Scholz bei seiner Ankunft. Er wolle seine Solidarität ausdrücken und vor Ort deutlich machen, "dass Deutschland der stärkste Unterstützer der Ukraine in Europa bleiben wird".
Es ist der zweite Besuch des Kanzlers in der Ukraine seit dem russischen Angriff vor mehr als zweieinhalb Jahren. Das erste Mal war Scholz gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem damaligen italienischen Premierminister Mario Draghi im Juni 2022 in der Ukraine. Taurus Scholz 05.58
Wie andere Städte in der Ukraine war auch die Hauptstadt in den vergangenen Nächten immer wieder Ziel von russischen Drohnenangriffen gewesen. Scholz kündigte weitere Rüstungsgüter im Wert von 650 Millionen Euro an, die noch in diesem Jahr geliefert werden sollen. Details nannte er zunächst nicht. Die Ukraine könne sich auf Deutschland verlassen, sagte Scholz. "Wir sagen, was wir tun. Und wir tun, was wir sagen."
Scholz soll in Kiew eine besondere Ehre zuteilwerden. Als erster Staatsgast seit Beginn des Krieges wird der Kanzler von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit militärischen Ehren begrüßt. Das ist bemerkenswert, da das über die Jahre wechselhafte Verhältnis zwischen Selenskyj und Scholz zuletzt einer neuerlichen Belastung ausgesetzt zu sein schien, nachdem der Kanzler Mitte November mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert hatte. Selenskyj hatte das Gespräch scharf kritisiert. Scholz habe die Isolation Putins aufgeweicht und damit eine "Büchse der Pandora" geöffnet. In Berlin hatte man auf die Kritik gelassen reagiert. Selenskyj sei vorab informiert gewesen. Seine harsche Reaktion führte man auf innenpolitische Zwänge des Präsidenten zurück.
Scholz handelt sich Kritik von vielen Seiten ein
Allerdings war Scholz auch von anderen Verbündeten kritisiert worden, unter anderem vom polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Er verwies darauf, dass Russland seine Angriffe auf die Ukraine im Nachgang des Telefonats sogar verstärkt habe. "Niemand wird Putin mit Telefonanrufen aufhalten", schrieb Tusk auf X. Die russischen Angriffe hätten gezeigt, "dass Telefon-Diplomatie echte Unterstützung des gesamten Westens für die Ukraine nicht ersetzen kann".
Der Besuch des Kanzlers fällt in eine Phase der grundsätzlichen Ungewissheit, wie sich die Ukraine-Politik des Westens nach dem Machtwechsel in den USA weiter gestalten wird. Einerseits hat der noch amtierende US-Präsident Joe Biden der Ukraine erlaubt, mit amerikanischen Raketen auch Ziele in Russland anzugreifen. Russland reagierte darauf mit dem erstmaligen Abschuss einer neuen Mittelstreckenrakete, die auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann. Andererseits hat Bidens Nachfolger Donald Trump angekündigt, den Ukraine-Konflikt schnell beenden zu wollen. Dafür will er den früheren General Keith Kellogg zum Sondergesandten ernennen.
Scholz verärgert die Ukraine mit Putin-Telefonat 8:52
Scholz: "Auch nach Wegen zu Verhandlungen suchen"
Der Kanzler hatte am Wochenende seine Position zur Ukraine noch einmal bekräftigt. "Unter meiner Führung ist Deutschland der mit Abstand größte Unterstützer der Ukraine in Europa", sagte Scholz beim SPD-Wahlkampfauftakt in Berlin. Dabei bleibe es – "so lange wie nötig". Scholz fügte allerdings hinzu: "So schwer vorstellbar das gerade scheint: Wir müssen auch nach Wegen suchen, die zu echten Verhandlungen führen." Dies sei im übrigen auch die Haltung Selenskyjs.
Tatsächlich unterbreitete Selenskyj wenige Tage vor der Ankunft von Scholz in Kiew einen neuen Vorschlag, unter welchen Bedingungen die Ukraine zu einem Waffenstillstand und etwaigen Verhandlungen bereit sein könnte. So forderte er im US-Sender Sky News keinen Nato-Beitritt mehr, sondern lediglich den Schutz der Nato für die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teile des Landes. Über die von Russland besetzten Gebiete soll dann verhandelt werden. Grundsätzlich gilt allerdings weiter, dass die Ukraine einen Frieden nicht durch Abtretung von ukrainischem Territorium erkaufen will.
Friedrich Merz Ukraine und Russland 6.00
Für Olaf Scholz ist Ukraine auch ein Wahlkampf-Thema
Für Scholz spielt das Thema Ukraine auch im bevorstehenden Bundestagswahlkampf eine große Rolle. Der Kanzler will sich als besonnener Staatsmann präsentieren und damit von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz abgrenzen. In seiner Rede in Berlin hatte Scholz Vorwürfe zurückgewiesen, er instrumentalisiere den Krieg für innenpolitische Zwecke. "Nein, so ist das nicht", sagte Scholz. Der Krieg in Europa sei ein Thema – "ob der Bundeskanzler darüber redet oder nicht". Die Bürgerinnen und Bürger hätten "ein Anrecht darauf zu erfahren, wer wo steht", so Scholz.
Der Kanzler mahnte, man dürfe die Augen nicht davor verschließen, "dass dieser Krieg auf ganz Europa, ja, auf die ganze Welt übergreifen kann". Scholz stellte auch die Möglichkeit eines atomaren russischen Angriffs in den Raum. Eine Haltung des "Wird schon irgendwie gutgehen" tauge nicht, wenn es um die Sicherheit Deutschlands gehe.