Das neue Machtzentrum der SPD hat einen Namen: Lars Klingbeil. Zum Nachsehen von Co-Parteichefin Saskia Esken, oder? Die ist damit aber ganz und gar nicht einverstanden.
Der neue starke Mann in der SPD hat sich an diesem denkwürdigen Tag eine rote Krawatte umgebunden. Lars Klingbeil, der Parteichef, schreitet aus dem Otto-Wels-Saal seiner Bundestagsfraktion, die ihn soeben zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt hat. Klingbeil lächelt ein laues Lächeln.
Sein Ergebnis sei ein "ehrliches", sagt er nach der Fraktionssitzung. 95 Ja-Stimmen, 13 Nein-Stimmen, drei Enthaltungen und zwei ungültige Stimmen: Machen 85,6 Prozent für Klingbeil – ehrlich, aber nicht überragend. Sein Amtsvorgänger, Rolf Mützenich, hatte bei drei Wahlen stets mehr als 94 Prozent der Stimmen bekommen.
"Das hat man schon gemerkt, auch in den Debatten", sagt Klingbeil, "dass der Sonntag noch ein bisschen in den Knochen steckt". Aber jetzt sei man aufgestellt, er selbst habe mit dem Votum jetzt ein "starkes Mandat" für die Verhandlungen mit der Union.
Moment: Vergisst er da nicht jemanden?
Saskia Esken, die SPD-Co-Chefin, ist da schon im Fahrstuhl verschwunden. Ein paar Stockwerke tiefer im Reichstagsgebäude stellt sich die Fraktion, die nach der historischen Wahlniederlage von 207 auf 120 Abgeordnete schrumpft, für ein Gruppenfoto auf.
Nach der Schmach von Sonntag werden in der SPD Rufe nach personellen Veränderungen laut, auch in der Parteiführung. Der Name von Saskia Esken fällt dabei häufiger. Während ihr Name in einem Bericht zum angeblichen SPD-Verhandlungsteam, demnach ein Sextett, für Gespräche mit der Union nicht auftaucht.
Alle Augen richten sich auf Klingbeil, der die Macht auf sich konzentriert. Auch zu Eskens Nachsehen. Ist das gerecht?
Saskia Esken gibt nicht klein bei
Um Punkt 10 Uhr betritt Lars Klingbeil den Fraktionssaal und dreht noch ein paar Runden durch die ausgedünnten Reihen. Dass Klingbeil unmittelbar nach der Wahlniederlage den Fraktionsvorsitz beansprucht hat, wird in der SPD auch kritisch gesehen. Schließlich habe auch er einen Anteil an der Niederlage.
Doch auch seine Kritiker räumen ein, dass es ein Machtzentrum brauche, um in möglichen Koalitionsverhandlungen dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der CDU, Friedrich Merz, etwas entgegenzusetzen. Einen Generationenwechsel hat Klingbeil versprochen – und damit offenbar vor allem seine eigene Einwechslung gemeint. Der beliebte Fraktionschef Rolf Mützenich, 65, räumt als erstes für ihn das Feld.
Und Saskia Esken, 63? Sie steht schon seit Längerem wegen schwacher öffentlicher Auftritte unter kritischer Beobachtung. Viele hatten nach der Wahl fest mit ihrer Ablösung gerechnet. Nun, nach der Wahlniederlage, wittern ihre Kritiker offenbar eine Chance, sie anzuzählen.
Esken zeigt sich nach außen davon unbeeindruckt, betont, dass sie mit großer Freude Parteichefin sei und es weiterhin bleiben will. Auch bei den schwarz-roten Verhandlungen wird sie dabei sein, lässt sie über einen Sprecher im "Tagesspiegel" ausrichten.
Dass in einem Bericht ein anderer Eindruck erweckt wurde, sorgt in Eskens Umfeld für Irritationen, schließlich ist auch sie Parteivorsitzende, daher natürlich bei etwaigen Verhandlungen dabei. Wurde die angebliche SPD-Aufstellung etwa von der Union verbreitet, um Zwietracht zu säen? Oder gar von Kräften aus der eigenen Partei?
Das harte Dementi von Esken zur Verhandlungsrunde zeigen, dass sie nicht klein beigeben will. Im Umkehrschluss aber auch, dass sie offenbar die Notwendigkeit dafür sieht, in die Offensive zu gehen – bevor sie zu sehr in die Defensive gerät.
Eskens Rolle sollte nicht unterschätzt werden. Sie gilt als Klinkenputzerin in der SPD, als loyal und als eine Chefin, die ihr Ohr an der Basis hat. Müsste sie als Bäuerinnenopfer herhalten, wäre das nicht zuletzt den Frauen in der SPD kaum zu vermitteln. Die Frau weg – und Lars Klingbeil macht sich zum Sonnenkönig? Schon klar. Im Zweifel stärken die Spekulationen Esken sogar, weil ein Rücktritt – sollte er nicht freiwillig erfolgen – unangenehme Fragen für die ganze Führung aufwerfen könnte.
Außerdem hat die linke Sozialdemokratin ihrem Co-Vorsitzenden, der zum konservativ-pragmatischen Flügel gezählt wird, etwas voraus: Sie wurde 2019 bei einem Mitgliederentscheid, also von der breiten Basis, erstmals zur Parteivorsitzenden gewählt. Das ist allerdings schon sechs Jahre her.
SPD-Spitze vor Bewährungsprobe
Im Dezember soll der nächste reguläre SPD-Wahlparteitag stattfinden. Wahrscheinlich wird dieser im Zuge von möglichen Sondierungs- oder Koalitionsverhandlungen vorgezogen. Ob Esken dann noch einmal antreten würde, ist unklar. Wer in die Partei hineinhört, stößt vor allem auf Skepsis. Esken müsste dafür wohl gewaltige Überzeugungsarbeit leisten.
Die SPD steht vor herausfordernden Wochen, sagt Partei- und Fraktionschef Klingbeil. Damit meint er in erster Linie Gespräche mit der Union, die zeitnah stattfinden sollen. Am Donnerstag will die SPD darüber beraten. Allerdings gilt es auch eine niedergeschlagene Partei wieder aufzurichten, die sich nach ihrem historischen Tiefstwert bei einer Bundestagswahl (16,4 Prozent) völlig neu sortieren muss.
Das haben Klingbeil und Esken gemein, unterschiedliche Machtfülle hin oder her: Sie beide stehen vor einer Bewährungsprobe, die über ihre politische Zukunft entscheidet. Doch nur eine der beiden wird dabei so unterschätzt.