3 hours ago

Online-Alterskontrollen: Nur für Erwachsene



Sowohl die EU als auch Deutschland bereiten technische Lösungen vor, mit denen Nutzer:innen im Internet ihr Alter nachweisen sollen. Dabei gibt es bisher kein Gesetz, das Alterskontrollen für soziale Medien wie TikTok, Instagram oder X vorschreibt.

 Zwei Erwachsene und ein Kind stehen vor einem MaßbandAb welcher Körpergröße hat man eigentlich Zugang zu TikTok? – Public Domain Midjourney

Hört man den Verantwortlichen der EU-Kommission zu, so könnte man glauben, Alterskontrollen im Internet seien in der EU längst Pflicht. Vergangenes Jahr richtete sie eine eigene „Task Force“ zu diesem Thema ein und betonte, Jugendschutz und die Entwicklung eines digitalen Identitätsnachweises hätten höchste Priorität.

Gemeint war die „European Digital Identity Wallet“ – eine digitale Brieftasche, mit der EU-Bürger:innen künftig Personalausweis, Krankenkarte und Führerschein in einer Handy-App speichern können. Auch das Alter soll sich damit nachweisen lassen, etwa um im Netz Pornos zu schauen oder in Online-Casinos zu spielen.

Ab 2026 soll die digitale Brieftasche in allen Mitgliedstaaten verfügbar sein. Doch das Thema Alterskontrollen drängt offenbar so sehr, dass die EU schon jetzt eine Lösung für den Altersnachweis in Auftrag gegeben hat. Den Zuschlag erhielten die deutsche T-Systems und das schwedische Unternehmen Scytáles. Sie entwickeln derzeit eine App, die man als „Mini-Wallet“ bezeichnen kann. Ihre einzige Funktion: bestätigen, dass man über 18 ist.

Der Auftrag ging raus, obwohl in der EU derzeit kein Gesetz eine Alterskontrolle vorschreibt. Fachleute für Datenschutz warnen vor den Folgen solcher Kontrollen für die Grundrechte. Sie fürchten, dass sich alle Menschen in der EU fortan ausweisen müssen, bevor sie auf TikTok posten, WhatsApp nutzen oder „Erwachsenenunterhaltung“ ansehen können. Und das alles im Namen des Jugendschutzes.

Kritik an Altersnachweis mit Decknamen

Wer verstehen will, was die Kommission beauftragt hat, muss sich durch technische Details arbeiten. Laut Ausschreibung soll die App in zwei Phasen entstehen: Zuerst soll sie einen „Altersnachweis unter Verwendung von Pseudonymen“ ermöglichen. Nutzer:innen müssen ihren Namen nicht preisgeben, sondern erhalten ein Pseudonym.

In einer zweiten Phase sollen die Unternehmen eine Lösung entwickeln, die noch weniger Daten preisgibt. Nutzer:innen bleiben anonym, und Anbieter erfahren nur noch, ob sie volljährig sind.

Die erste Phase der App ist offenbar bereit zur Präsentation. Anfang April stellt Scytáles sie beim Global Age Assurance Standards Summit in Barcelona vor, einer internationalen Konferenz, auf der die Branche auf politische Entscheidungsträger:innen trifft. Scytáles hat auf Fragen zu den technischen Details nicht geantwortet.

Die EU-Kommission bestätigt den straffen Zeitplan: Eine erste Version der App, die mit Pseudonymen arbeitet, soll schon im Juni 2025 verfügbar sein. Die Mitgliedstaaten müssten diese Blanko-App dann „an ihre lokalen Gegebenheiten anpassen“, bevor sie sie in den App-Stores veröffentlichen.

Doch Fachleute für Datenschutz sind erstaunt. Die Verwendung von Pseudonymen gilt als umstritten, weil es leichter ist, Nutzer:innen damit über mehrere Seiten zu verfolgen. Warum sollte ausgerechnet eine App, mit der Nutzer:innen sich für Pornos oder andere Erwachsenen-Seiten freischalten lassen, nicht von Anfang an den höchsten Datenschutz-Standard bieten? Auch Janine Patricia Santos vom Netzwerk European Digital Rights kritisiert die Entscheidung. „Wir glauben, dass diese Anforderung von Anfang an in die App eingebaut werden muss.“

Bundesfamilienministerium werkelt parallel

Die Kommission strebt eine einheitliche Lösung für alle Mitgliedstaaten an. Doch das Bundesfamilienministerium entwickelt bereits einen eigenen Ansatz für eine „datensparsame“ Altersverifikation. Im vergangenen Jahr beauftragte das Haus von Noch-Familienministerin Lisa Paus (Grüne) das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie. Das Institut sollte kein fertiges Produkt liefern, sondern ein Konzept, das zeigt, wie es funktionieren könnte.

Dieses Konzept ist jetzt fertig, Ende vergangenen Jahres stellte das Ministerium es bei einem Workshop vor. (Wir veröffentlichen das Dokument, das netzpolitik.org über eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten hat.)

Das Ziel: Menschen sollen ihr Alter im Netz nachweisen können, ohne einen Account zu erstellen oder persönliche Daten preiszugeben. Eine Stelle, die das Alter der Person bereits kennt, soll bestätigen, dass jemand über 13, 16 oder 18 ist.

Der Anbieter, etwa TikTok, erfährt nur die Altersgruppe der Person. Die Stelle, die das Alter nachweist, weiß nicht, wofür der Nachweis benötigt wird. Das Institut schlägt dafür ein Verfahren mit Zufallszahlen vor, bei dem Nutzer:innen auf beiden Seiten nur das Nötigste preisgeben.

Mögliche Verifizierer: Bibliotheken, Krankenkassen, Verkehrsbetriebe

In dem Workshop ging es auch um die Frage, wer diese verifizierenden Stellen sein können. Vorgestellt haben sich der Sparkassen- und Giroverband, der einen solchen Altersnachweis bereits für den „Kulturpass“ anbietet, ein Angebot, mit dem Jugendliche nach ihrem 18. Geburtstag ein Guthaben für Kulturangebote bekamen.

Mit dabei waren aber auch Vertreter von VIDIS, einem Dienst für das „digitale Identitätsmanagement“ an deutschen Schulen. Er funktioniert wie eine Schaltstelle: Schüler:innen, die schon ein Konto für ein digitales Bildungsportal an ihrer Schule haben, können sich damit auch in den Angeboten anderer Bundesländer oder bei ganz anderen Diensten einloggen.

„Perspektivisch bestünde demnach für alle Lernenden in Deutschland die Möglichkeit, ihr Alter via VIDIS zu verifizieren“, steht in der Dokumentation des Workshops (die wir auf Anfrage erhalten haben und hier veröffentlichen). Und weiter: „In der anschließenden Diskussion wurden als weitere mögliche Verifizierungsstellen Öffentliche Bibliotheken, Krankenkassen und Öffentliche Verkehrsbetriebe wie die BVG genannt.“

Keine Pflicht zur Altersverifikation

Der Vorschlag ähnelt der App, die die EU-Kommission den Mitgliedstaaten anbieten will. Der entscheidende Unterschied: Mit dem Modell des Familienministeriums könnten auch Kinder und Jugendliche ihr Alter nachweisen.

Die EU-App kann dagegen nur die Volljährigkeit bestätigen. Damit ließen sich also Alterssperren für Pornoseiten errichten. Doch für einen 14-Jährigen, der sich bei TikTok anmelden soll – wo man ab 13 Jahren Zugang hat – ist das unbrauchbar.

Dabei soll genau das laut EU-Kommission das Ziel sein. „Diese mobile App wird direkt zur Umsetzung der Jugendschutzbestimmungen des Digital Services Act (DSA) beitragen“, heißt es in der Ausschreibung. Das EU-Gesetz taucht in den Ausschreibungen und Ankündigungen rund um das Projekt immer wieder auf. Es stellt Regeln auf, an die sich Anbieter von Online-Plattformen in der EU halten müssen, egal ob YouTube oder Pornhub.

Nur schreibt das Gesetz keine Alterskontrollen vor. Es verpflichtet Online-Plattformen, die für Minderjährige zugänglich sind, lediglich dazu, für „ein hohes Maß an Privatsphäre, Sicherheit und Schutz von Minderjährigen“ zu sorgen. Alterskontrollen sind dabei eine Möglichkeit, aber keine Vorschrift. Anbieter können selbst abwägen, wie sie den Verpflichtungen nachkommen.

Auch das deutsche Jugendschutzgesetz, das an die EU-Vorgaben angepasst wurde, nennt nur eine Liste von Vorsorgemaßnahmen, die „in Betracht“ kämen – darunter eine Altersverifikation für nutzergenerierte Inhalte, die mit „ab 18 Jahren“ gekennzeichnet sind.

Für Pornoseiten ist in der EU noch ein anderes Gesetz relevant, die Richtlinie über Audiovisuelle Mediendienste. Auch hier findet sich keine Pflicht zu Alterskontrollen. Die Rede ist lediglich von „strengsten Maßnahmen“ für Pornoseiten.

EU-Leitlinien mit Empfehlung für Alterskontrollen?

Allerdings will die EU-Kommission den Anbietern bei ihren Abwägungen auf die Sprünge helfen. Sie entwickelt derzeit Leitlinien für die Online-Plattformen, wie sie ihren Verpflichtungen aus dem Artikel 28 des Digital Services Act zum Schutz von Minderjährigen am besten nachkommen können.

Die Arbeit an diesen Leitlinien läuft schon seit vergangenem Jahr. Noch in diesem Jahr sollen sie erscheinen, teilt die Kommission auf Anfrage mit. Vorher ist eine öffentliche Konsultation geplant.

Im Workshop des Familienministeriums ging es auch um die Arbeit an den Leitlinien. Eine Vertreterin der Stiftung Digitale Chancen sagte dort, dabei habe sich die „Altersverifikation als ein wesentliches Element herausgestellt“.

Banken oder Krankenversicherungen sollen Alter bestätigen

Anonymität und Ausschluss

Warum lässt die Kommission eine App für Altersverifikation entwickeln, obwohl sie rechtlich nicht vorgeschrieben ist? Nicht für Pornoseiten, schon gar nicht für Soziale Medien?

Janine Patricia Santos vom Netzwerk European Digital Rights erklärt: Die Kommission reagiere damit auf Druck aus Mitgliedsstaaten, die eine Altersprüfung verlangen. „Die Kommission wird die Leitlinien zusammen mit der App als eine Art Jugendschutzpaket veröffentlichen, um eine Fragmentierung in der EU zu vermeiden“, sagt sie. Es gehe darum, einen europäischen Flickenteppich zu verhindern.

Doch Santos und andere Fachleute warnen vor den technischen Alterskontrollen. Ein zentraler Punkt ist das Recht auf Anonymität, das kaum mit Alterskontrollen vereinbar ist. Wenn Alterskontrollen über ein zentralisiertes System wie die EU-Brieftasche abgewickelt werden, argumentiert Santos, sei das ein Risiko für die Privatsphäre – besonders wenn es um so sensible Themen gehe wie der Art von Pornografie, die jemand konsumiert.

Sie und andere Organisationen kritisieren, dass nach aktuellem Stand nicht ausgeschlossen sei, dass solche Daten in der digitalen Brieftasche doch mit den Personen verknüpft werden. In einem Gutachten stellen auch Verbraucherschützer:innen der Wallet in der jetzigen Form kein gutes Urteil aus. 

Santos und European Digital Rights lehnen technische Alterskontrollen jedoch aus weiteren Gründen ab – die selbst höchste Datenschutzstandards nicht entkräften können. „Es geht auch um den Zugang zu Dienstleistungen, die Redefreiheit und die Informationsfreiheit.“ All diese Grundrechte stünden auf dem Spiel, wenn Menschen vom digitalen Leben ausgeschlossen werden – sei es, weil ihnen Papiere fehlten oder weil sie die technischen Mittel für eine Altersverifikation nicht hätten.

„Eine App wird nicht den Kinderschutz im Netz lösen“, sagt auch Hannah Lichtenthäler von der gemeinnützigen Organisation Superrr. Strategien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet müssten immer alle Kinderrechte im Blick behalten: Neben dem Schutz gehörten dazu auch das Recht auf Teilhabe, Förderung und Informationsfreiheit. An diesen Stellen dürfe nicht gespart werden.


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