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Heikle Mehrheiten: AfD-Freibrief von Merz? Die CDU im Osten fühlt sich bestätigt



Eine Mehrheit von Union und AfD? Die Zäsur im Bundestag hatte einen Vorlauf in ostdeutschen Kommunen und Landtagen – und könnte nun dort praktische Folgen haben.

Aus den Fenstern seines Ministerbüros schaut Conrad Clemens auf den Glanz und das Elend des Freistaats Sachsen. Jenseits der Elbe zeichnet sich die Silhouette von Residenzschloss und Frauenkirche ab – und direkt davor, unmittelbar vor dem Kultusministerium: die Reste der kürzlich eingestürzten Carolabrücke.

Er ignoriere die Bauarbeiten, sagt Clemens. Er schaue einfach daran vorbei über den Fluss. Die Dinge selektiv betrachten: So hält es auch der Kultusminister mit dem sächsischen Landtag, wo die CDU-SPD-Minderheitsregierung ohne Tolerierungspartner einer starken AfD gegenüber steht.

Für eine hörbare Minderheit der sächsischen Union liegt die Lösung parat. Sie sagt: Falls sich nicht BSW, Linke oder Grüne zur Zustimmung bewegen ließen, müsse halt mit der AfD geredet und mit wechselnden Mehrheiten regiert werden. Kolumne Osten - Friedrich Merz, die AfD und das Ende des westdeutschen Hochmuts 19:58

Clemens sieht das dezidiert anders. Und er ist nicht irgendwer. Als einstiger Bundesgeschäftsführer der Jungen Union und Wahlkampfleiter der Landes-CDU kennt der 42-Jährige die Partei gut. Als Staatssekretär, Staatskanzleichef und nun als Kultusminister ist er eine der wichtigsten Stützen von Ministerpräsident Michael Kretschmer.

"Diese Landesregierung wird Mehrheiten ohne die AfD suchen und finden", sagt Clemens. "Ich finde es richtig, dass Friedrich Merz auf dem jüngsten Parteitag diese Linie noch einmal ganz klar gezogen hat."

Was bedeutet die Abstimmung mit der AfD für die Bundesländer?

Doch welche Linie ist das nochmal genau? 

Fest steht: CDU und CSU haben vor zwei Wochen im Bundestag mit AfD und FDP einen Antrag zur Flüchtlingspolitik beschlossen. Und sie haben danach bei der – an FDP und Unionsabweichlern gescheiterten – Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz nochmals die Stimmen der AfD in Kauf genommen. 

Damit praktizierte die Union erstmals auf Bundesebene das, was die ostdeutsche CDU seit Längerem tut. Immer wieder bildete sie in Kreistagen oder Stadträten Mehrheiten mit der AfD. Selbst in Landesparlamenten kam es zu schwarz-blauen Allianzen. In Thüringen setzte die CDU 2023 mit den Stimmen der AfD einen Antrag zur Gendersprache gegen die damalige rot-rot-grüne Minderheitsregierung durch. Später beschloss sie mit AfD und FDP einen Anti-Windkraft-Antrag und ein Gesetz, mit dem die Grunderwerbsteuer abgesenkt wurde. 

Die Abstimmung ist aus Sicht der Ost-CDU keine Zäsur

Der thüringische CDU-Landeschef Mario Voigt hatte sich bereits damals mit Merz abgestimmt. Und der Bundesvorsitzende verteidigte danach offensiv die Strategie. "Wir machen das, was wir in den Landtagen wie auch im Deutschen Bundestag diskutieren, nicht von anderen Fraktionen abhängig", sagte Merz bei RTL. Und CSU-Chef Markus Söder assistierte an gleicher Stelle: "Ich glaube, da hat er recht." 

Aus Sicht vieler in der ostdeutschen CDU gibt es deshalb gar keine Zäsur. Die Abstimmung im Bundestag ist für sie nur eine Bestätigung der Linie, die sie seit Jahren ziehen. Ihre Lesart: Solange es keine Absprachen über Inhalte oder Abstimmungsverhalten gebe, sei das auch keine Zusammenarbeit.

Einige CDU-Funktionäre begreifen die Vorgänge im Bundestag sogar als Ermunterung. Niemand aus der Partei könne sich mehr darüber empören, wenn sich das nächste Mal in einem Kreistag oder Landtag dank der AfD zu Mehrheiten komme, heißt es. Es wirkt wie ein Freibrief aus Berlin. Rekonstruktion Merz 6:05

In Magdeburg sitzen AfD-Fans in der CDU-Fraktion

Im Magdeburger Landtag etwa gibt es einige CDU-Abgeordnete, die schon lange mit der AfD reden. "Es muss wieder gelingen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen", schrieben zwei Fraktionsmitglieder schon 2021. 

Und bereits 2017 stimmte ein Großteil der CDU-Fraktion einem Antrag der AfD für die Einsetzung einer Kommission zum Linksextremismus in dem Bundesland zu. Damals schaltete sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel aus Berlin ein. 

"Solche Einmischungen aus Berlin verbitten wir uns spätestens nach der Abstimmung in der letzten Woche", sagte ein CDU-Landespolitiker dem stern. Der Weg sei schon damals richtig gewesen. "Schön, dass Friedrich Merz das erkannt hat." Ein anderes Mitglied der Fraktion erklärte es kürzlich für egal, welche "drei Buchstaben" eine Partei trage. Hauptsache, man verstehe sich menschlich.

Diese Stimmen sind aber in der Minderheit. Offiziell bleibt der Sachsen-Anhalter CDU-Landeschef Sven Schulze auf Distanz: "Die AfD kommt nicht als Regierungspartner in Betracht", sagte er dem stern. Das gelte auch für jede Form der Zusammenarbeit. "Es gibt für mich keinen Grund, von diesem Weg abzuweichen." 

In Sachsen-Anhalt wird im Herbst 2026 gewählt. Eine breite Debatte im Land über mögliche Kooperationen mit der AfD bekäme der CDU vorher schlecht, zumal Ministerpräsident Reiner Haseloff die Landtagswahl 2021 explizit als AfD-Verhinderer gewonnen hatte – und Schulze ihm in der Staatskanzlei nachfolgen will.

CDU sieht Mehrheit der Bevölkerung hinter sich

Auch in Mecklenburg-Vorpommern wird im kommenden Jahr der Landtag gewählt. Dort ist die CDU gemeinsam mit der AfD in der Opposition. Doch das kann sich ändern. Der Landes- und Fraktionschef der CDU, Daniel Peters, sagte zuletzt, dass man künftig "nicht anders verfahren" werde als Merz in Berlin. Schon jetzt, heißt es in der Landespartei, stimme die AfD ständig CDU-Anträgen zu. Deshalb könne man doch nicht die eigene Politik ändern.

Ansonsten verweist die Union in Schwerin genauso wie in Dresden, Erfurt oder Magdeburg auf SPD und Grüne. Auch sie würden, wenn es ihnen in den Kram passe, Mehrheiten mit der AfD bilden. Nur rege sich darüber kaum jemand auf. In Schwerin etwa wird in nahezu jedem Gespräch daran erinnert, wie SPD und Grüne im Jahr 2021 Stimmen der AfD nutzten, um einen Untersuchungsausschuss gegen einen Landrat der CDU einzusetzen – und das mitten im Wahlkampf.

Auch Philipp Amthor fühlt sich als Generalsekretär der CDU in Mecklenburg-Vorpommern ermutigt. "Von unseren ostdeutschen CDU-Mitgliedern erhalten wir sehr viel Zustimmung für die klare Haltung von Friedrich Merz und für die Abstimmung im Bundestag", sagte der Bundestagsabgeordnete dem stern. Und er bekräftigt: "Es handelt sich um keinen neuen Kurs, sondern um eine Bestätigung unserer Abgrenzungsstrategie: keine aktive Zusammenarbeit mit der AfD, aber auch kein rot-grünes Diktat."

Merz Recap 08.20

Ernstfall Sachsen?

Werden also jetzt wechselnde Mehrheiten zur Normalität? 

Der Ernstfall droht der CDU zuerst in Sachsen. Zwar unterstützte das BSW dort Kretschmers Wiederwahl zum Ministerpräsidenten. Doch tolerieren will die Wagenknecht-Partei die Minderheitsregierung nicht. Scheitern im Landtag zum Beispiel die Verhandlungen für den nächsten Doppelhaushalt, wird in Dresden nichts ausgeschlossen, inklusive Koalitionsbruch und CDU-Alleinregierung mit wechselnden Mehrheiten.

Die ersten bringen sich schon dafür in Stellung. Wenn es etwa nach dem früheren CDU-Landtagspräsidenten Matthias Rößler geht, sollte Kretschmer nun endlich springen. "Niemand bei uns will ernsthaft eine Koalition mit der AfD", sagte er dem stern. "Aber schon in der Vergangenheit habe die CDU in vielen Kommunen im ländlichen Raum ohne die AfD keine Mehrheit bilden können. 

Diese Situation, sagt Rößler, dürfte jetzt auch im sächsischen Landtag eintreten, ob beim Haushalt oder bei einzelnen Gesetzen. "Es wird zu wechselnden Mehrheiten kommen, da sollten wir uns nichts vormachen." Die Abstimmung im Bundestag habe diese "neue Realität" gezeigt.

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