Bei Luftangriffen auf Dnipro setzt Russland am Donnerstag erstmals eine neu entwickelte Mittelstreckenrakete ein. Trotz der Besonderheit dieses Einsatzes sehen die USA darin keine grundlegende Änderung der Situation des Krieges. Auch Experten gehen von einer politischen Botschaft Putins aus.
Einen Tag nach dem russischen Angriff mit einer neuen Hyperschall-Mittelstreckenrakete hat die Ukraine Erkenntnisse über das Geschoss vorgelegt. Die Rakete habe mehr als die elffache Schallgeschwindigkeit erreicht, teilt der ukrainische Geheimdienst mit. Sie sei vom Start in der südrussischen Region Astrachan bis zum Einschlag in der Stadt Dnipro in der zentralöstlichen Ukraine 15 Minuten lang geflogen. Die Rakete sei mit sechs Gefechtsköpfen bestückt gewesen, von denen jeder mit sechs Teilen Submunition ausgestattet gewesen sei. "Die Geschwindigkeit im letzten Abschnitt der Flugbahn lag über Mach elf", so der Geheimdienst.
Die neuartige Rakete war am Donnerstagmorgen bei Luftangriffen auf die ukrainische Stadt Dnipro eingesetzt worden. Der von der Rakete angerichtete Schaden war indessen vergleichsweise begrenzt: Nach Angaben der Behörden in Dnipro traf die Rakete eine Infrastruktureinrichtung und verletzte zwei Zivilisten.
Kiew beschuldigte Moskau zunächst, zum ersten Mal in der Geschichte eine Interkontinentalrakete im Kampf abgefeuert zu haben. Washington stellte jedoch später klar, dass es sich nicht um eine Interkontinentalrakete, sondern vielmehr um eine "experimentelle ballistische Rakete mittlerer Reichweite" gehandelt habe. Vermutlich besitze Russland nur eine Handvoll dieser Geschosse, sagte ein US-Regierungsvertreter.
Der russische Präsident Wladimir Putin beschrieb am Donnerstagabend in einer Fernsehansprache die neuartige Waffe als experimentelle "Hyperschall"-Rakete. Die Rakete mit dem Namen "Oreschnik" könne auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden. Der Einsatz der Waffe kann als Drohung an westliche Länder verstanden werden, die die Ukraine mit Raketen größerer Reichweite beliefern und ihnen den Einsatz dieser Waffen auf russischem Territorium erlauben.
Ein US-Regierungsvertreter sagte jedoch, das Abfeuern der "experimentellen ballistischen Rakete mittlerer Reichweite" sei in dem Konflikt kein "game changer" - also nichts, was die Situation grundlegend verändere. Auch eine NATO-Sprecherin erklärte, die neue Waffe werde "weder den Verlauf des Konflikts ändern noch die NATO-Verbündeten davon abhalten, die Ukraine zu unterstützen".
"Wir haben es hier mit etwas noch nie Dagewesenem zu tun"
Experten nehmen an, dass es sich bei der Rakete um eine Variante der RS-26 Rubesch handeln könnte, deren Entwicklung 2018 eingestellt worden sein soll. "Ich wäre überrascht, wenn Russland (eine solche Rakete) bauen könnte, ohne mindestens zu 90 Prozent auf bestehende Entwicklungen zurückzugreifen und ohne Teile der RS-26 auszuschlachten", sagt Fabian Hoffmann, der an der Universität Oslo zu Raketentechnologie forscht.
Der Einsatz der neuen Rakete sei eine Botschaft Moskaus an den Westen, sind sich die Experten einig. "Wir haben es hier mit etwas noch nie Dagewesenem zu tun, und es ist viel mehr ein politischer als ein militärischer Akt", sagt Héloïse Fayet von der französischen Denkfabrik Ifri.
Für Nick Brown vom privaten britischen Analysedienst Janes ging es bei dem Einsatz der Rakete "eigentlich darum, eine Botschaft oder Warnung der Eskalation zu senden - eine teure und potenziell gefährliche Art und Weise für Russland, mit dem Säbel zu rasseln". Moskau versuche möglicherweise, "die Ukraine und ihre Unterstützer einzuschüchtern", befand auch ein US-Regierungsvertreter. "Aber dadurch wird sich das Blatt in diesem Konflikt nicht wenden."
"Die Welt muss reagieren"
Nach dem russischen Angriff rief der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die internationale Gemeinschaft zu einer Reaktion auf. Es handele sich um eine "offensichtliche und ernsthafte Steigerung des Ausmaßes und der Brutalität dieses Krieges", erklärte Selenskyj. "Die Welt muss reagieren", erklärte er in Onlinenetzwerken. "Im Moment gibt es keine starke Reaktion der Welt."
Bundeskanzler Olaf Scholz sprach am Freitag von einer "furchtbaren Eskalation". Die jüngsten Eskalationen zeigten, "wie gefährlich dieser Krieg ist". Zugleich bekräftigte der SPD-Politiker aber seine Absage an die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine.
Am Dienstag will sich der Nato-Ukraine-Rat in einer kurzfristig anberaumten Sitzung in Brüssel mit der neuen russischen Rakete befassen. Wie aus Diplomatenkreisen verlautete, wurde das Treffen auf Initiative Kiews einberufen, es soll auf Botschafterebene stattfinden.