12 hours ago

Bundestagswahl: Deutsche im Ausland sauer – wo sind die Stimmzettel?



Noch nie wollten so viele Auslandsdeutsche wählen. Doch die kurzen Fristen hindern mutmaßlich Zehntausende an der Stimmabgabe. Ist die Gültigkeit der Bundestagswahl gefährdet?

Das Problem stammt aus dem Jahr 1871 und hat Verfassungsrang. Artikel 25 der ersten deutschen Reichsverfassung schrieb zu Zeiten Otto von Bismarcks vor, dass im Falle einer Auflösung des Reichstages "innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach derselben die Wähler versammelt werden". Die Formulierung "versammeln" macht schon klar: Hier ist nur der Gang ins Wahllokal vorgesehen. Briefwahl gab es damals noch keine. Und an Auslandsdeutsche dachte erst recht niemand.

Rainer Braun (Name geändert) lebt in Sydney. Und er hätte gerne per Brief an der vorgezogenen Bundestagswahl an diesem Sonntag teilgenommen. Hat aber nicht geklappt. Die 60-Tage-Frist, die es durch alle Hochs und Tiefs der deutschen Geschichte bis ins Grundgesetz geschafft hat, war zu kurz, um Braun die Briefwahl zu ermöglichen. Und wie ihm geht es offenbar vielen der geschätzt mehr als vier Millionen Deutschen im Ausland. Braun findet, das sei ein "Skandal".

Bundestagswahl: Klagen und Beschwerden aus vielen Ländern

Ähnliche Beispiele gibt es aus vielen Ländern: Die Bundeswahlleiterin räumte am Freitag ein, sie erreichten "Fragen und Beschwerden von im Ausland lebenden Deutschen, bei denen die rechtzeitige Zustellung der Wahlbriefe bei dieser unter verkürzten Fristen stattfindenden Bundestagswahl kritisch oder unmöglich ist". Genaue Zahlen nannte sie keine. Berichte über fehlende Unterlagen gibt es außer aus den USA und Australien zum Beispiel auch aus China und Thailand. Sogar in Belgien wurden Probleme gemeldet, die haben aber einen anderen Grund: Tagelang streikte dort die Post.

In den USA, wo ungefähr 1,2 Millionen Deutsche leben, scheint das Problem besonders groß zu sein. Karl Doemens, Korrespondent des Redaktions-Netzwerks RND in Washington, schrieb jüngst, er kenne "keinen Auslandsdeutschen in den USA, bei dem die Wahlunterlagen dieses Mal rechtzeitig eingetroffen wären". Andere deutsche Journalisten in Washington bestätigen auf Nachfrage des stern ähnliche Erfahrungen. Schätzungen zufolge könnten allein in den USA Zehntausende wahlwillige Deutsche betroffen sein. Selbst das Angebot des deutschen Botschafters, Andreas Michaelis, für Wahlzettel, die bis vergangenen Mittwoch bei ihm eingingen, einen Kurierdienst einzurichten, konnte kaum Abhilfe schaffen. Unterlagen, die gar nicht erst ankommen, kann auch der schnellste Kurier nicht rechtzeitig zurückschicken. 

Rainer Braun hatte solche Verzögerungen befürchtet. Wäre die Ampel nicht auseinander geflogen, hätten Parteien und Behörden bis zum 28. September 2025 Zeit gehabt für ihre jeweiligen Vorbereitungen. Das war der ursprünglich festgelegte Wahltermin. Durch die schnelle Auflösung des Bundestages blieb nur die 60-Tage-Frist. Schon am 1. Dezember 2024 stellte Braun schriftlich einen Antrag auf Aufnahme ins Hamburger Wählerverzeichnis für die Wahl im Februar. "Ich wusste ja, dass es knapp wird." Anders als bei früheren Wahlen erhielt er über Wochen keine Antwort, nicht einmal eine Empfangsbestätigung, auch nicht auf Nachfrage.

Erst am 17. Februar erreichte ihn eine E-Mail mit der Nachricht, dass seine Wahlunterlagen zehn Tage zuvor per Luftpost nach Australien geschickt worden seien. Am Freitag, den 21. Februar, also 14 Tage nach dem angeblichen Versand und zwei Tage vor der Wahl, waren sie immer noch nicht angekommen. Und selbst wenn, wäre es schon viel zu spät, um sie rechtzeitig nach Deutschland zu schicken. Die Unterlagen müssen am 23. Februar um 18 Uhr in der zuständigen Gemeindebehörde ankommen. In einer WhatsApp-Nachricht schreib Rainer Braun jüngst sarkastisch an seine Familie in Deutschland: "Ich wünsche Euch viel Spaß beim Wählen."

Würde eine hohe Zahl an Auslandsdeutschen, die nicht wählen konnten, die Gültigkeit der Wahl gefährden?

Saskia Gaebel, Pressesprecherin im nordrhein-westfälischen Innenministerium, erläuterte dem stern die Lage aus Sicht der Behörden: So sei die endgültige Zulassung der Wahlvorschläge erst am 30. Januar erfolgt, 24 Tage vor der Wahl. Nach dem Druck der Stimmzettel und deren Verteilung auf die einzelnen Wahlämter habe man mit dem Versand der Briefwahlunterlagen beginnen können. Dies habe in der Regel "einige Tage" in Anspruch genommen, so Gaebler. Da zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen für jeden der 64 Wahlkreise ein eigener Stimmzettel gedruckt werden musste, sei es aufgrund unterschiedlicher Druckdienstleister und Auslieferungszeitpunkte "regional zu etwas unterschiedlichen Startzeitpunkten" für die Briefwahlversendung gekommen. Man habe aber die Gemeindebehörden gebeten, die Versendung von Briefwahlunterlagen ins Ausland prioritär zu behandeln. Wie gut das funktioniert hat, kann Gaebler nicht sagen. Jede Gemeinde zählt für sich allein, der Landeswahlleiter führt keine Statistik.

Würde eine hohe Zahl an Auslandsdeutschen, die nicht wählen konnten, die Gültigkeit der Wahl gefährden? Das Bundesverfassungsgericht hat in Verbindung mit der letzten vorgezogenen Neuwahl 2005 verkürzte Fristen grundsätzlich für rechtmäßig erachtet. Allerdings lagen damals zwischen der Ankündigung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, und der tatsächlichen Auflösung des Bundestages volle zwei Monate. Diesmal waren es vom Ende der Ampel am 6. November bis zur Auflösung des Bundestages nur sieben Wochen. Hinzu kamen die Unsicherheit durch den tagelangen Streit um den Termin der Vertrauensfrage, sowie die Feiertage über Weihnachten und den Jahreswechsel, die für weitere Verzögerungen sorgten. Insgesamt also deutlich weniger Zeit für Parteien wie Behörden, sich auf die vorgezogene Neuwahl einzurichten. 

Diesmal dürften so viele potenzielle Deutsche an der Ausübung ihres Wahlrechts gehindert worden sein wie noch nie zuvor. Laut Bundeswahlleiterin Ruth Brand unterrichteten die zuständigen Gemeindebehörden bis Freitag mehr als 213.000 Deutsche im Ausland über ihre Eintragung in ein Wählerverzeichnis. Das zeigt, dass das Interesse an dieser Wahl deutlich größer ist als 2021, als sich nur knapp 129.000 Deutsche im Ausland eintragen ließen. Im Vergleich mit der letzten vorgezogenen Neuwahl 2005 gab es diesmal sogar rund viermal so viele Eintragungen im Wählerverzeichnis. Mithin dürfte auch die Zahl derer deutlich gestiegen sein, die nicht wählen konnten, weil der Eintrag ins Verzeichnis nicht gleichbedeutend ist mit dem Erhalt der Stimmzettel. Irgendwann könnte also eine kritische Masse an verhinderten Wählern erreicht sein, die den Verfassungsgrundsatz einer "allgemeinen" Wahl zumindest infrage stellt – und das Ergebnis.

Der Vater einer in Australien lebenden Tochter hat vor dem Bundesverfassungsgericht bereits Antrag auf Verschiebung der Bundestagswahl gestellt – vergeblich. Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler erwartet, dass es von Auslandsdeutschen auch nach der Wahl diesmal "zu einer erhöhten Zahl von Einsprüchen kommen wird", wie er dem rbb sagte. Über die befindet zunächst der Bundestag, doch kann gegen dessen Entscheidung Beschwerde in Karlsruhe eingelegt werden. Allerdings können zu einer Ungültigkeit der Wahl nur Fehler führen, die sich auf die Sitzverteilung im Bundestag ausgewirkt haben oder ausgewirkt haben könnten. Das in unzähligen Einzelverfahren nachzuweisen, dürfte schwer sein.

Die Lösung für künftige Wahlen müsste deshalb im Verfahren liegen. Landeswahlleiter Bröchler plädiert für eine möglichst schnelle Einführung der digitalen Stimmabgabe: "Der Weg zum E-Voting ist klar, und ich bin auch der Meinung, dass er kommen muss", so Bröchler. Allerdings müsse das E-Voting auch sicher sein.

Im speziellen Fall der Auslandsdeutschen könnte man auch schneller ein vereinfachtes Verfahren entwickeln, findet Professor Bernd Grzeszick, Verfassungsjurist an der Uni Heidelberg. So könnten Botschaften und Konsulate die Wahlzettel vor Ort ausdrucken und verteilen, schlug Grzeszick in der WirtschaftsWoche vor. "Das ist keine Raketenwissenschaft." 

Man könnte natürlich auch einfach das Grundgesetz ändern und nach 154 Jahren die 60-Tage-Frist um einige Tage verlängern. 

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