3 months ago

Angriff auch auf Atomfabriken?: Israel kann dem Iran "an die Halsschlagader gehen"



Die Hisbollah kopflos, der Iran schwach wie selten, aber mit Know-how für die Atombombe: Man muss nicht mal Falke sein in Israel, um hier eine Chance zu sehen, zum harten Schlag gegen die Mullahs auszuholen. Doch der birgt große Gefahren.

Der Nahe Osten in der Ruhe vor dem Sturm? Den "gefährlichsten, verheerendsten Moment dieses Konflikts" nennt Nahost-Experte Julien Barnes-Dacey die Tage des Wartens auf eine Entscheidung in Israel. Der iranische Angriff mit 200 ballistischen Raketen von Anfang Oktober bedarf einer Antwort. Israels Logik der Abschreckung folgend wird diese Antwort militärisch ausfallen.

"Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht und wird dafür bezahlen", sagte Israels Premier Benjamin Netanjahu noch am Tag der Attacke. Doch welches Ausmaß an Gewalt, Zerstörungskraft und Schaden der israelische Gegenschlag entfalten wird, das vermag zur Stunde niemand zu sagen. Womöglich nicht einmal Netanjahu selbst.

Barnes-Dacey sieht ein reales Risiko, dass aus einem "schon jetzt weitreichenden regionalen Krieg ein ausgewachsener direkter Konflikt zwischen Israel und dem Iran entsteht". Was den Experten vom European Council on Foreign Relations (ECFR) besonders beunruhigt: Nirgendwo in der Entwicklung der letzten Wochen zeichnet sich aus seiner Sicht etwas wie ein Ausweg ab, eine Möglichkeit für Deeskalation, für einen Waffenstillstand.

Stattdessen kommen die erbitterten Gegner Iran und Israel mit beinahe jedem militärischen Schritt, jeder Bewegung einer Eskalation scheinbar ein Stück näher. Die meisten dieser Schritte auf dem Weg in Richtung eines offenen Krieges geht derzeit Israel.

Israel strotzt von Selbstvertrauen

Auch deshalb halten so viele Beobachter der Entwicklung im Nahen Osten dieser Tage den Atem an: Weil Israel inzwischen immer martialischer auftritt und - überspitzt gesagt - im Monatstakt eine neue Front in der Region eröffnet. Die Regierung in Jerusalem, der Geheimdienst, das Militär: Nach ausgefeilten Präzisionsschlägen gegen Köpfe der Hamas und Hisbollah, nach 1000 explodierenden Pagern in den Händen von libanesischen Hisbollah-Mitgliedern scheinen sie in Israel zu strotzen von Selbstvertrauen.

Barnes-Dacey beobachtet in bestimmten Kreisen dort wachsende Ambitionen, bei dieser "Gelegenheit" die ganze Region neu zu gestalten. Irans Einfluss in Nahost deutlich zu schwächen, womöglich sogar das Land selbst militärisch empfindlich zu treffen. Doch die jüngere Geschichte lehrt, so sagt es der Experte im ECFR-Podcast, "auf welch harte und schmerzhafte Weise eine solche Illusion zerbrechen kann".

Noch im April, als sich Teheran und Jerusalem das erste Mal in diesem Jahr direkt attackierten, geschah das maßvoll und von beiden Seiten genau kalibriert. Der Iran griff mit Drohnen und ballistischen Raketen an, die rechtzeitig detektiert werden konnten und dann mit Unterstützung der USA und einiger europäischer Partner abgewehrt wurden. Israel reagierte einige Tage später mit dem Beschuss einer iranischen Flugabwehrstellung. Danach war erstmal wieder Ruhe.

USA mahnen zur Zurückhaltung

Der gemäßigte Gegenschlag von israelischer Seite wird einer starken Einflussnahme aus dem Weißen Haus zugeschrieben. Die Regierung Biden hat demnach deutlich zur Zurückhaltung gemahnt. Doch Biden ist heute viel schwächer als im April und Netanjahu fühlt sich stärker. Wie gut es den USA noch gelingen wird, Israels Furor abzumoderieren, ist heute eine offene Frage.

Doch auch wenn die Israelis in der jüngsten Zeit vor allem nachrichtendienstlich enorme Fähigkeiten und wenig Skrupel gezeigt haben: Ein kriegsauslösender Angriff auf den Iran würde militärische Kraft erfordern, die Israels Streitkräfte (IDF) nach Meinung vieler Experten allein nicht aufbringen könnten. Schon gar nicht, wenn sie auch die unterirdischen Atomanlagen ins Visier nähmen.

Würde die israelische Armee in ihrer Antwort auf Teherans Raketenangriff nun deutlich härter als im April reagieren wollen, doch zugleich klar unterhalb eines Angriffs auf Irans nukleare Kapazitäten, dann könnten sie den Gegner mit Angriffen auf militärische Stellungen bereits empfindlich treffen. Auch die Abschussrampen, von denen aus die Raketen im April gen Israel flogen, könnten ein solches Ziel sein.

Anschläge auf Irans Machtzirkel

Eine Stufe höher auf der Eskalationsleiter sieht der Israel-Experte Hugh Lovatt Schläge gegen kritische Infrastruktur im Iran, vor allem im Energiebereich. Noch stärker könnten die IDF konfrontieren, wenn sie chirurgische Anschläge auf Irans Machtzirkel verüben würden. "Nach dem, was wir im Libanon gesehen haben, mit der gezielten Tötung von Hassan Nasrallah, ist nichts undenkbar", sagt Lovatt im ECFR-Podcast. "Niemand ist sicher."

Nichts ist undenkbar - gilt das gerade auch für die israelische Regierung? Die Anlagen, in denen die Mullahs ihre Forscher Uran anreichern lassen, liegen sehr tief unter der Erde. Wenn die Kapazitäten der IDF von Experten als zu schwach gesehen werden, um diese zu zerstören, heißt das jedoch nicht, dass Netanjahus Falken-Koalition das genauso sieht. Der tödliche Anschlag auf Hisbollah-Chef Nasrallah war Analysen zufolge mit niemandem abgestimmt. Das wirkt, als wäre die Bereitschaft in Netanjahus Regierung derzeit gering, sich von Partnern, zum Beispiel aus Washington, beraten zu lassen. Zugleich könnte Netanjahu darauf spekulieren, dass, wenn Israel sich militärisch übernehmen sollte, am Ende doch die USA eingreifen.

Irans Ruf scheint beschädigt

Aus Sicht eines israelischen Hardliners gäbe es genug gute Gründe, die unterirdischen Nuklearanlagen des Gegners genau jetzt und sehr gründlich zu zerlegen. Denn alles, was Teheran bislang an Abschreckung aufgefahren hatte, ist inzwischen deutlich geschwächt: Die Hisbollah als bisher wichtigster und loyalster Verbündeter schwankt im Libanon kopflos durch die Gegend. Der Ruf des Iran als Regionalmacht ist beschädigt. Nicht zuletzt durch die gezielte Tötung von Hamas-Chef Ismail Hanija in Teheran. Die Israelis brachten einen "Staatsgast" in Teheran um, im Zentrum der iranischen Macht. Eine derart tiefe Demütigung der Mullahs muss man erstmal zustande bringen und sie sich auch noch trauen.

Nach dem Anschlag wurden die arabischen Nachbarn und Verbündete gewahr, dass Teheran Hanijas Tod nicht mal rächte. Auf die Länder und Milizen aus der vom Iran geführten "Achse des Widerstands" kann das nicht so gewirkt haben, als sei man mit dem Iran als Partner auf der sicheren Seite. Beobachter sehen auch im Iran selbst eine veränderte Haltung seit den letzten Militärschlägen der Israelis. Selbst gemäßigte, deeskalierende Stimmen würden nun eine stärkere Reaktion darauf befürworten. Um wenigstens wieder in die Nähe eines Gleichgewichts der Abschreckung mit Israel zu kommen.

Wenn jedoch den Mullahs selbst bewusst wird, dass sie Israel derzeit kaum noch abschrecken können, wenn sie sich selbst als militärisch zu schwach erachten, dann könnte folgende Reaktion die Konsequenz daraus sein: Der Iran könnte darauf setzen, die fehlende Stärke und Abschreckungskraft möglichst schnell durch nukleare Fähigkeiten zu erreichen.

Wie nah ist Iran an der Atombombe?

Wie weit diese nuklearen Fähigkeiten inzwischen gediehen sind, lässt sich nur schwer von außen bemessen. Der amerikanische Iran-Experte Behnam Ben Taleblu sieht die iranische Wissenschaft inzwischen in der Lage, innerhalb von minimal vier Tagen bis maximal zwei Wochen spaltbares Material für eine Atombombe zu entwickeln. Das wäre der erste Schritt. Mit diesem Material müsste anschließend die Waffe gebaut werden - Schritt Nummer 2.

"Die Annahmen, wie lange der Iran für das Entwickeln der Waffe dann noch benötigen würde, reichen von sechs bis zu höchstens 18 Monaten", sagt Taleblu im Gespräch mit ntv.de. "Amerikaner und Israelis schätzen das unterschiedlich ein, basierend auf bekanntem Bombendesign. Minimal also vier Tage plus sechs Monate, maximal zwei Wochen plus 18 Monate." Das nötige Wissen für die Atombombe ist demnach im Iran vorhanden. Es scheint nur mehr eine politische Entscheidung zu sein, ob man zu produzieren beginnt oder nicht.

"Die Zeitspanne kann der Iran auch noch reduzieren. Im Juni und Juli wurden dort Computermodellierungen und Metallgewinnung beobachtet", sagt Taleblu, der für die Foundation for Defense of Democracies forscht. Seiner Analyse nach versuchen die iranischen Nuklearforscher, sich für einen Produktionsauftrag bereitzuhalten. "Wie halten Sie als Forscher Ihr Wissen auf dem neuesten Stand? Indem Sie immer wieder experimentieren. Wir sehen also im Iran, und das berichten auch die Geheimdienste, dass die Nuklearexperten dort waffenrelevante Dinge tun."

Fähigkeitsschau aus Teheran

Nicht nur Irans nukleare Kapazitäten sind für die israelische Sicherheit ein Faktor. In die Entscheidung, wie ihre Antwort auf die iranischen Raketen von Anfang Oktober ausfallen soll, muss auch die Analyse dieses Anschlags mit einfließen. Die 200 ballistischen Raketen als Reaktion auf den gewaltsamen Tod Hassan Nasrallahs lassen sich auch als Fähigkeitsschau aus Teheran lesen.

"Diese ballistischen Raketenangriffe waren meiner Meinung nach wirkungsvoller, als öffentlich zugegeben wurde", sagt Barnes-Dacey vom ECFR. "Es gab mehrere Volltreffer auf israelische Raketenbasen, und wir wissen, dass die Hisbollah bisher nicht die volle Kraft ihrer Raketen eingesetzt hat. In den letzten Tagen wurden auch Raketen auf Zentralisrael gezielt, was die Miliz zuvor nicht getan hatte."

"An die Halsschlagader gehen"

Während also Israel in den vergangenen Wochen beachtliche Fähigkeiten des Mossad demonstrieren konnte, hat der Iran zumindest gezeigt, dass in seinen Waffenlagern genug Präzisionssysteme bereitliegen, um Israels Raketenabwehrschirm Iron Dome zu durchdringen. Was die israelische Regierung mit all diesen Erkenntnissen und Faktoren am Ende macht und entscheidet? "Wir wissen es nicht", sagt Barnes-Dacey.

Mehr zum Thema

Man kann also in israelischen Sicherheitskreisen nicht nur die seltene Gelegenheit gekommen sehen, um gerade jetzt den Iran niederzuschlagen, sondern auch die Notwendigkeit dafür - bevor die Atombombe tatsächlich Realität wird. "Jetzt eine neue regionale Ordnung zu schaffen, das würde bedeuten, Iran an der nuklearen Front und auch auf andere strategische Weise zu treffen." Mit anderen Worten: "Ihm an die Halsschlagader zu gehen."

Der Experte warnt davor, Irans Möglichkeiten zu unterschätzen. "Ich denke, die Israelis haben nicht völlig freie Hand. Wahrscheinlich stehen sie unter Druck der USA, die Reaktion einzudämmen und den Kreislauf nicht weiter anzukurbeln. Denn was auch immer sie jetzt tun: Die Iraner werden sich gezwungen fühlen, noch härter zuzuschlagen."

Adblock test (Why?)

Gesamten Artikel lesen

© Varient 2025. All rights are reserved