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Analyse: Diese 30 Tage können über die Ukraine entscheiden



Im Waffenstillstand von 30 Tagen sollen ausschließlich Anlagen des Energiesektors von Bombenangriffen ausgespart bleiben, ansonsten tobt der Krieg weiter. Warum 30 Tage so wichtig sind.

Es deutet sich an, dass Russland und die Ukraine partiell auf Angriffe verzichten. Um was für einen Waffenstillstand handelt es sich? Ein erster Vorschlag wurde von Russland zurückgewiesen. Die Ukraine hatte sich bereit erklärt, einen 30-tägigen Waffenstillstand zu akzeptieren. Der ukrainische Vorschlag sah einen Stopp von allen Raketen-, Drohnen- und Bombenangriffen in der Tiefe der beiden Länder sowie im Schwarzen Meer vor. Er sollte 30 Tage gelten. Ein Ende des Landkrieges und damit wohl auch von Luftangriffen im Frontgebiet war ausgeschlossen. 

Erwartungsgemäß hat Russland diesen Vorstoß zurückgewiesen. Tatsächlich hätte er deutliche Vorteile für die Ukraine mit sich gebracht. Im strategischen Luftkrieg hat Russland die Oberhand. Hätte Putin den Vorschlag angenommen, hätte das ukrainische Militär im Großteil des Landes wie in Friedenszeiten operieren können. Kiew hätte ungehindert Truppen verlagern, die Verbündeten hätten ungehindert Kriegsmaterial ins Land bringen können. Die 30 Tage hätten zudem erlaubt, Luftabwehrsysteme wie Patriot oder F-16-Munition ohne Bedrohung durch russische Raketen zu integrieren und die Verteidigungsfähigkeit zu stärken.

Waffenstillstand nur für den Energiesektor

Der jetzige Vorschlag stammt aus dem Telefonat zwischen Donald Trump und Putin. Die Initiative zeigt, dass die USA ihre Rolle stärken wollen, möglicherweise um Europa zu umgehen und direkten Einfluss auf Putin zu nehmen. "Waffenstillstand" ist ein zu großes Wort dafür. Er sieht vor, dass Russland 30 Tage lang keine ukrainischen Energieanlagen angreifen wird, sofern die Ukraine ebenfalls auf Angriffe auf russische Energieinfrastruktur verzichtet. Auf die aktuellen Kampfhandlungen am Boden und auf das Sterben von Soldaten und Zivilisten hat dieser Verzicht keine Auswirkungen. Beide Seiten hören lediglich auf, die zivile Infrastruktur des Gegners im Energiesektor zu zerstören. Diese Art von strategischer Kriegsführung ist auf lange Zeiträume ausgelegt, sie dient dazu, die Wirtschaft des anderen Landes dauerhaft zu schädigen.

Wo ist der Vorteil dieser Übereinkunft?

In diesem speziellen Fall gibt es keinen eindeutigen Verlierer und keinen Gewinner. Beide Seiten leiden unter den Attacken. Kiew gelingt es immer wieder, Ölraffinerien in Russland zu treffen. Wegen der Art der Ziele – große Ausdehnung, brennbare Materialien – können schon kleine Gefechtsköpfe einen großen Schaden anrichten. Diese Angriffe beeinträchtigen die kriegswichtigen Exporterlöse Moskaus. Russlands Angriffe gegen Kraftwerke und Einrichtungen der Energieversorgung werfen die Wirtschaft der Ukraine um Jahrzehnte zurück. Bislang kam es nie zu langandauernden flächigen Blackouts, das liegt jedoch daran, dass eine "Notversorgung" zulasten der Wirtschaft priorisiert wird. 

Ein weiterer Grund ist, dass die Russen bislang wegen der Gefahr einer nuklearen Verseuchung keine Kernkraftwerke bombardiert haben. Von der nicht-nuklearen Energieinfrastruktur (Wärme- und Wasserkraftwerke, Umspannwerke etc.) sollen im vergangenen Winter 70 bis 80 Prozent zerstört worden sein. Dies hat auch humanitäre Folgen: Zuletzt froren Millionen Ukrainer ohne Strom und Heizung, Krankenhäuser wurden unbrauchbar, etwa zehn Millionen Menschen sind betroffen. 

Auf der anderen Seite stören Angriffe auf russische Raffinerien die Treibstoffversorgung und könnten Unmut schüren. Im Januar 2024 wurde der Schaden auf schon etwa 16 Milliarden US-Dollar geschätzt, inzwischen ist er weiter gewachsen. Die Wiederaufbaukosten mit nun neuen Anlagen wären um ein Mehrfaches höher. Premierminister Schmyhal schätzt 68 Milliarden US-Dollar für den Energiesektor, für Russland könnten Raffinerieschäden die Rohölexportabhängigkeit erhöhen. Sollte irgendwann Frieden herrschen, wird es Jahre dauern und erhebliche Mittel benötigen, um die Energieversorgung wieder aufzubauen.

Der partielle Verzicht, den Energiesektor anzugreifen,  lässt sich leicht umsetzen. Derartige Angriffe werden minutiös geplant und von vorgesetzten Stellen angeordnet. Anders als bei einer Waffenruhe an der Front ist es unwahrscheinlich, dass einzelne Fanatiker die Übereinkunft brechen. Oder dass Irrtümer und Provokationen zu einem erneuten Aufflammen der Kämpfe führen. Der Verzicht ist leicht zu überwachen. Ein Drohneneinschlag in einer Raffinerie oder die Explosion einer Rakete im Turbinenraum eines Kraftwerks wären eindeutige Zeichen, dass die Führung des Landes, welches den Angriff angeordnet hat, nicht willens ist, auch nur eine sehr begrenzte Vereinbarung einzuhalten.

Was bedeutet dieser "Waffenstillstand" nicht?

Auf die Kämpfe an der Frontlinie hat dieser Verzicht keinen Einfluss. Der Bodenkrieg geht ungehemmt weiter und damit auch das Sterben. Angesichts möglicher weitreichender Verhandlungen ist eine Intensivierung der Kämpfe zu erwarten. Beide Seiten werden versuchen, ihre Position am Verhandlungstisch durch Erfolge an der Front zu verbessern. Russland hat es gerade vorgemacht: Der von den Ukrainern eroberte Frontvorsprung im Raum von Kursk wäre eine Trumpfkarte für Kiew gewesen. Nachdem die Russen dort die ukrainischen Streitkräfte besiegt haben und sie fast vollständig aus dem russischen Gebiet vertreiben konnten, kann Kiew dieses Gebiet in Verhandlungen nicht weiter nutzen.

Kiew könnte versuchen, an anderer Stelle russisches Gebiet zu besetzen. Die letzten Vorstöße scheiterten allerdings. Die Russen dagegen werden ihr Momentum nutzen und weiterhin angreifen. Sie werden versuchen, die ukrainischen Streitkräfte immer mehr zu schwächen. Vielleicht ändern sie sogar ihre Taktik. Bislang versuchen sie, den Gegner langsam zu zermürben. Eventuell könnten nun sie Gebietsgewinne priorisieren.

Die Vereinbarung bedeutet auch keine Pause im strategischen Luftkrieg. Die Angriffe mit weitreichenden Drohnen, ballistischen Raketen und Marschflugkörpern können fortgeführt werden, solange nur der Energiesektor ausgespart wird. Die Ukrainer könnten sich statt der Raffinerien auf Flughäfen und Nachschubbasen der Russen konzentrieren. Ähnliches werden die Russen machen. Konkretes Beispiel: Die Angriffe auf die Hafenanlagen von Odessa sind von dem Verzicht nicht betroffen. Entsprechend wird es auch weiter zivile Opfer weit entfernt der Front geben. Natürlich können die Parteien die Angriffe aussetzen und nach 30 Tagen wieder aufnehmen. Oder beide Seiten stocken ihre Arsenale auf, was die Kämpfe danach verschärft. Eine Verlängerung wäre möglich, falls Verhandlungen Fortschritte zeigen.

Der Anfang von einem Anfang

Ist der Verzicht auf Angriffe im Energiesektor ein erster Schritt zum Frieden? Das wäre zu optimistisch formuliert. Es ist ein erster Schritt zu ernsthaften Verhandlungen, die zu einem Frieden führen können. Dennoch sollte man diese Übereinkunft nicht unterbewerten. Es wäre ein Anfang, beide Seiten haben Gelegenheit, entweder guten Willen zu beweisen, oder sie können diesen Beginn sogleich torpedieren. So wie die Dinge liegen, ist mehr Frieden zum jetzigen Zeitpunkt kaum zu erwarten. So wie es vermutlich realistisch ist, dass die US-Regierung derzeit separat mit jeder Seite berät. Es ist zu befürchten, dass es nur zu einem Eklat käme, wenn eine ukrainische und eine russische Delegation in einem Raum aufeinanderträfen. Ob es Donald Trump und seiner Regierung gelingt, einen für beide Seiten gangbaren Weg auszuloten, steht in den Sternen.

Zur Erinnerung: Nordvietnamesen und die USA verhandelten 4,5 Jahre über ein Ende der Kämpfe in Vietnam. Aber immerhin unternimmt die Trump-Regierung diesen Versuch. Wer glaubt, dass die russische Streitmacht alsbald zusammenbrechen wird und Kiew im Jahr 2026 an allen Fronten siegen wird, wird die Verhandlungen als verfrüht abtun. Geht man allerdings davon aus, dass die Russen mit ihrer Form des Abnutzungskrieges Erfolg haben und sich die Position der Ukraine Monat zu Monat verschlechtert, wird man Trumps Versuch, den Krieg zu beenden, besser bewerten.

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