Zwei Wochen nach den Österreich-Wahlen zeichnet sich noch immer keine neue Regierung ab. Eine Machtbeteiligung von Wahlsieger FPÖ ist nicht ausgeschlossen. Interne Querelen der Sozialdemokraten befördern Szenarien, aus denen der selbst ernannte "Volkskanzler" Kickl als Sieger hervorgehen könnte.
Manchmal kommt es ganz dick, zum falschen Zeitpunkt noch dazu. "Diese Pressekonferenz war für die SPÖ so unnötig wie ein Kropf", sagt eine Politikbeobachterin in der österreichischen Hauptstadt Wien. Sie spricht von einem Beben bei den österreichischen Sozialdemokraten. Von einem kleinen Beben zwar, aber eines das die weiterhin offen Regierungsbildung in Österreich zusätzlich erschwert: Nach den Nationalratswahlen gibt es keinen belastbaren Hinweis, wer das Land künftig regieren könnte. Dafür aber die wildesten Spekulationen.
Ausgelöst hat das SPÖ-Beben Rudi Fußi. Der Werbeberater ist bekannt wie ein bunter Hund in der österreichischen Politik. Während seines Studiums sympathisierte er mit dem Jugendverband der konservativen ÖVP, dann fühlte er sich zur SPÖ hingezogen. Dort wechselte er gerne zwischen den Lagern hin und her. Mal unterstützte er den linken SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler, dann wieder dessen Kontrahenten Hans-Peter Doskozil. Jetzt macht er sein eigenes Ding.
Während der Pressekonferenz redet und redet der Mann mit dem weißen Einstecktuch im blauen Anzug. Fußi lobt seine Parteigenossen, vieles passt ihm aber auch nicht: der linke Wahlkampf, die Unentschlossenheit seiner Partei in der Migrationspolitik, deren Wirtschaftspolitik. Dann endlich verkündet er, was eigentlich schon alle Journalisten wissen: Er will SPÖ-Chef werden.
Was gegen eine große Koalition spricht
So einfach ist das nicht. Das weiß er. Fußi braucht eine Menge Unterschriften, damit sich ein Parteitag überhaupt mit seinem Ansinnen beschäftigt. Doch darauf kommt es gar nicht an. Für die Beobachter in Österreich ist wichtig: Babler hat einen innerparteilichen Gegner mehr. Der künftige Kurs der SPÖ wird unberechenbarer. Das könnte Koalitionsverhandlungen mit der konservativen ÖVP weiter erschweren. Dabei gilt eine erneute große Koalition als das wahrscheinlichste, nicht aber unbedingt wahrscheinliche Szenario.
Bis es zu Gesprächen kommt, wird aber noch ein wenig Wasser die Donau hinunterfließen. In Österreich betraut traditionell der Bundespräsident nach den Nationalratswahlen den Wahlsieger mit der Regierungsbildung. Das muss er aber nicht. Gesetzlich ist es nirgends festgelegt. Und am vergangenen Mittwoch verzichtet Bundespräsident Alexander Van der Bellen darauf. Er gibt den Spitzenkandidaten der drei größten Parteien, FPÖ, ÖV und SPÖ die Möglichkeit, noch einmal Positionen auszuloten. Eine Woche lang.
In Österreich galt lange: Wenn gar nichts mehr geht, geht immer noch eine große Koalition aus Sozialdemokraten und Volkspartei, also der ÖVP. Nur, dass sich inzwischen die Parteienlandschaft verändert hat. Fünf Parteien sitzen nach der Wahl am 29. September im Nationalrat, mit dem deutschen Bundestag vergleichbar. Da ist der Wahlsieger, die rechtsextreme FPÖ. Neben ÖVP und SPÖ gibt es zudem die wirtschaftsliberalen NEOs und die Grünen. Letztere werden vermutlich mit der Regierungsbildung wenig zu tun haben. Koalitionsverhandlungen mit ihnen werden als vergleichsweise schwierig eingeschätzt. Da lässt man's lieber ganz.
Abschreckendes Ampel-Beispiel
Eine "großen Koalition" hätte aber auch ihre Probleme. Beide Parteien verfügen zusammen nur über eine hauchdünne Mehrheit. Was sie ein: das Selbstverständnis, demokratische Traditionsparteien zu sein. Darüber hinaus gibt es wenig Schnittmengen. Die Sozialdemokraten wollen Steuern für Reiche einführen, die Konservativen sind gegen Steuererhöhungen. Sie wollen dagegen Unternehmenssteuern senken, die SPÖ ist damit nicht so einverstanden. Die ÖVP will schnellere Asylverfahren und schnellere Abschiebung krimineller Migranten.
Die SPÖ lehnt übertriebene Härten ab. Teile der ÖVP wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF schrumpfen. Mit der SPÖ aber ist das nicht zu machen. Und dann ist da noch Andreas Babler. Der SPÖ-Chef ist vor allem bei konservativen Parteimitgliedern umstritten. Abweichler sind da vorprogrammiert. Dafür lässt die Minimehrheit im Parlament aber keinen Puffer.
Die beiden Parteien könnten sich natürlich jemand Drittes ins Boot holen. Die NEOs stehen schon parat für eine "Zuckerl-Koalition", wie das Projekt in Österreich wegen der Parteifarben der Koalitionäre genannt wird: türkis, rot und pink. Doch viele Österreicher finden diese Idee nicht gut. Die Ampel in Deutschland gilt als abschreckendes Beispiel. Zudem hat es nach dem Zweiten Weltkrieg erst eine Dreierkoalition in Österreich gegeben. Sie wurde von den Alliierten eingesetzt und hielt keine neun Monate.
Stützt FPÖ den zweitplatzierten Nehammer?
Angesichts dieser vertrackten Situation flüstern Politikbeobachter und Politikern in Wien über eine andere Koalitionsoption, hinter hohlen Händen, unüberhörbar: Schließlich sind die Ansichten von ÖVP und FPÖ in vielen Punkten deckungsgleich oder zumindest ähnlich. ÖVP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer hatte dennoch eine Koalition mit der Kickl-FPÖ ausgeschlossen. Kickl, das ist FPÖ-Chef Herbert Kickl. Der selbsternannte "Volkskanzler" grenzt sich nach Nehammers Meinung zu wenig ab von Rechtsextremisten, Burschenschaftlern, Identitären und Deutschtümlern. Und er ist Nehammer zu Putin-freundlich.
Aber was, wenn Kickl in einer gemeinsamen Regierung erst einmal nichts zu sagen hätte? Die Idee: FPÖ und ÖVP bilden eine gemeinsame Koalition, die in der ersten Hälfte der fünf Jahre dauernden Legislaturperiode von Bundeskanzler Nehammer geführt wird - obwohl ja die FPÖ stärkste Kraft im Parlament ist. Danach könne man weitersehen.
Wie könnte es dann theoretisch weitergehen? Der amtierende Bundespräsident Van der Bellen möchte keinen Bundeskanzler der FPÖ ernennen, er könnte sich weigern. Seine Amtsperiode endet aber 2027. Anders als in Deutschland wird der Bundespräsident in Österreich vom Volk gewählt. Es ist durchaus denkbar, dass der Nachfolger des Grünen Van der Bellen aus den Reihen der FPÖ kommt. Der könnte dann einen ihm genehmen Nachfolger von Bundeskanzler Nehammer ernennen. Zugegeben: Das wäre ein Pokerspiel für FPÖ und ÖVP, aber eines mit geringem Risiko.
Über eines denkt noch niemand nach, jedenfalls nicht laut: Ob Volkskanzler Kickl nicht vielleicht zum "Volkspräsident" statt "Volkskanzler" werden könnte? Welche Pläne hat Kickl, der vor einer Woche in einem Interview klar sagte, er wolle "nur" als Kanzler regieren? Würde er sich aus einer blau-türkisen Koalition unter Nehammer zurückziehen und versuchen, stattdessen die Wiener Hofburg zu erobern? Beim Gespräch über solch ein Szenario muss eine langjährige Beobachterin des Wiener Politikbetriebs auflachen. Dann bleibt ihr das Lachen im Hals stecken.