Ungarn hat den Weg freigemacht für biometrische Gesichtserkennung gegen Teilnehmer:innen von Pride-Demos. Die EU-Kommission prüft derzeit, ob der Mitgliedstaat damit Gesetze verletzt. Parlamentarier:innen pochen auf Antworten.

Seit Ungarn Mitte März Pride-Demonstrationen verboten und den Einsatz von Gesichtserkennung gegen Demonstrierende erlaubt hat, wächst der Druck auf die EU-Kommission. Denn Ministerpräsident Viktor Orbán stellt damit auch die wegweisenden neuen Regeln der KI-Verordnung (AI Act) auf die Probe. Beobachter:innen hatten schon während der Verhandlungen über die Verordnung vor gefährlichen Schlupflöchern beim Einsatz von Gesichtserkennung gewarnt.
Nun erhöhen EU-Abgeordnete weiter den Druck. Mehr als 60 Parlamentarier:innen fordern die Kommission auf, zu erklären, wie sie mit den möglichen Verstößen des zunehmend autoritären EU-Mitglieds Ungarn umgehen will, darunter etwa die deutsche Svenja Hahn (FDP/Renew) und Brando Benifei (S&D). Der italienische Sozialdemokrat war einer der Chefverhandler des EU-Parlaments für die KI-Verordnung.
Pride als Zielscheibe
Ungarn hatte Mitte März Versammlungen verboten, auf denen geschlechtliche Vielfalt und Queerness gezeigt werden. Wer sie organisiert oder auch nur daran teilnimmt, begeht seitdem eine Ordnungswidrigkeit. Um Demonstrant:innen zu identifizieren, soll die Polizei sogar Gesichtserkennung einsetzen.
Orbáns Regierung rechtfertigt das Gesetz mit dem Schutz von Kindern vor angeblicher Beeinflussung. Es erweitert das umstrittene „Kinderschutzgesetz“, das bereits Bücher und Infomaterial aus Schulen und Buchhandlungen verbannen soll. Menschenrechtsorganisationen benennen das als Angriff auf die Rechte von queeren und trans* Menschen – ein Vorgehen, das in der EU unzulässig ist.
Die Abgeordneten wollen nun wissen, ob Ungarn mit dem Pride-Gesetz gegen das neue Verbot von Echtzeit-Gesichtserkennung verstößt, wie es die KI-Verordnung beschreibt. Die Regelung greift seit Februar diesen Jahres. Geschieht die Gesichtserkennung nachträglich, kann das laut KI-Verordnung erlaubt sein, allerdings nur bei potentiellen Straftaten. Der Einsatz wäre dann als „hoch-riskant“ eingestuft. In diesem Fall müsste Ungarn jedoch vorab prüfen, wie sich die Gesichtserkennung auf Grundrechte auswirkt.
Bei Ordnungswidrigkeiten könnte die KI-Verordnung wiederum keine Rechtsgrundlage für Gesichtserkennung liefern, wie jüngst auch Ella Jakubowska von EDRi gegenüber netzpolitik.org betonte. EDRi ist der Dachverband von Organisationen für digitale Freiheitsrechte
Greift die Kommission ein?
Die Abgeordneten wollen in ihrem Brief wissen, was passieren würde, „wenn die für die Aufsicht zuständigen nationalen Behörden nicht in der Lage oder nicht willens sind“, unabhängig zu handeln. Würde die Kommission in so einem Fall Maßnahmen ergreifen, um die Rechte ungarischer Bürger:innen zu schützen?
Laut KI-Verordnung sind nationale Behörden dafür zuständig, zu überprüfen, ob die Regeln eingehalten werden. Sie können bei Verstößen Strafen in Millionenhöhe verhängen. Doch in vielen Ländern sind die Strukturen noch im Aufbau. Orbáns Regierung hat im Februar zwar einen KI-Beauftragten ernannt; er wird für den Aufbau der Aufsichtsbehörde in Ungarn zuständig sein. Kritiker:innen bezweifeln jedoch, dass eine von Orbán kontrollierte Behörde dessen Macht eingrenzen wird.
Gesichtserkennung in Ungarn verstößt gegen EU-Gesetze
Menschenrechte und Datenschutz in Gefahr
Die Abgeordnete Svenja Hahn hatte die Ausnahmen für nachträgliche biometrische Identifizierung bereits bei der Verabschiedung des KI-Regelwerks als „Bedrohung für Bürgerrechte“ bezeichnet. Die Hürden seien niedrig. Eine erste Identifizierung müsse nicht autorisiert werden, und es gebe keine Beschränkungen bei der Schwere der Straftaten. Trotz dieser großen Schlupflöcher zeichnet sich ab, dass Ungarn die Spielräume der KI-Verordnung überschritten hat.
Ein weiteres Problem: Die Verbote aus der KI-Verordnung greifen zwar bereits. Andere Teile treten aber erst 2026 in Kraft, so auch die Auflagen für als hoch-riskant eingestufte Systeme. Bis dahin gilt eine andere EU-Richtlinie, die den Einsatz sensibler biometrischer Daten auf zwingend notwendige Fälle beschränkt. Auch in diesem Fall sind Ordnungswidrigkeiten nicht abgedeckt.
Ella Jakubowska von EDRi weist außerdem darauf hin, dass Ungarn auch die EU-Menschenrechts- und Datenschutzgesetze beachten müsse. Auch unabhängig von der KI-Verordnung greift Gesichtserkennung zur Identifizierung von Pride-Teilnehmer:innen beispielsweise tief in das das Recht auf Datenschutz oder Nichtdiskriminerung ein.
Die EU-Kommission hat nun sechs Wochen Zeit, die Fragen der Abgeordneten zu beantworten.
Addressee: the European Commission
Subject: Protection of Hungarian citizens‘ fundamental rights in the context of biometric identification and surveillance at public gatherings
Recent reports suggest that a new Hungarian law may allow the use of facial recognition technology to identify individuals participating in public demonstrations banned by the government [1].
Can the Commission assess whether such use complies with the AI Act’s prohibition on real-time biometric identification [2], applying all legal safeguards and criteria —and confirm that post-remote identification cannot be used to bypass Article 5 hat has already entered into force? [3]
Does the use of remote biometric identification in this situation bring additional risks to the fundamental rights and freedoms in the Charter, such as freedom of assembly and association, as enshrined in Article 12 of the Charter?
If the national authorities responsible for oversight are unable or unwilling to act “independently, impartially and without bias”, as required by the AI Act, will the Commission commit to taking action—including infringement proceedings if needed—to ensure that Hungarian citizens are effectively protected under the AI Act and the Charter of Fundamental Rights?[4]
[1] https://apnews.com/article/hungary-pride-ban-orban-lgbtq-rights-e7a0318b09b902abfc306e3e975b52df
[2] Article 5(1)(c) and 5(2) AI Act
[3] Article 26(10) AI Act
[4] As required by Article 70 AI Act
Signatories:
- Kim van Sparrentak (Greens/EFA)
- Brando Benefei (S&D)
- Svenja Hahn (Renew)
- Birgit Sippel (S&D)
- Leila Chaibi (The Left)
- Maria Walsh (EPP)
- Marketa Gregorova (Greens/EFA)
- Pernando Barrena Arza (the Left)
- Tineke Strik (Greens/EFA)
- Sophie Wilmes (Renew)
- Sebastian Everding (the Left)
- Jan-Christoph Oetjen (Renew)
- Klara Dobrev (S&D)
- Kai Tegethoff (Greens/EFA)
- Fabienne Keller (Renew)
- Alessandro Zan (S&D)
- Nela Riehl (Greens/EFA)
- Saskia Bricmont (Greens/EFA)
- Raquel Garcia (Renew)
- Damian Boeselager (Greens/EFA)
- Evin Incir (S&D)
- Anna Strolenberg (Greens/EFA)
- Olivier Chastel (Renew)
- Reinier van Lanschot (Greens/EFA)
- Dainius Zalimas (Renew)
- Thomas Waitz (Greens/EFA)
- Daniel Freund (Greens/EFA)
- Kira Peter-Hansen (Greens/EFA)
- Marc Angel (S&D)
- Rasmus Nordqvist (Greens/EFA)
- Villy Søvndal (Greens/EFA)
- Hanna Gedin (The Left)
- Rasmus Andresen (Greens/EFA_
- Özlem Demirel (The Left)
- Jaume Asens Llodra (Greens/EFA)
- Catarina Vieira (Greens/EFA)
- Alexandra Geese (Greens/EFA)
- Maria Ohisalo (Greens/EFA)
- Rudi Kennes (The Left)
- Lena Schilling (Greens/EFA)
- Mounir Satouri (Greens/EFA)
- Benoit Cassart (Renew)
- Melissa Camara (Greens/EFA)
- Alice Kuhnke (Greens/EFA)
- Christina Guarda (geen slots) (Greens/EFA)
- Elio Di Rupo (S&D)
- Sara Matthieu (Greens/EFA)
- Joanna Scheuring-Wielgus (S&D)
- Gordan Bosanac (Greens/EFA)
- Petras Auštrevičius (Renew)
- Katrin Langensiepen (Greens/EFA)
- Anja Hazekamp (The Left)
- David Cormand (Greens/EFA)
- Irena Joveva (Renew)
- Per Clausen (The Left)
- Murielle Laurent (S&D)
- Benedetta Scuderi (Greens/EFA)
- Lucia Yar (Renew)
- Marco Tarquinio (S&D)
- Majdouline Sbaï (Greens/EFA)
- Diana Riba I giner (Greens/EFA)
- Elisabeth Grossmann (S&D)
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