Gerichtshof für Menschenrechte: Serbien soll Schallwaffe stecken lassen

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Die serbische Zivilgesellschaft hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Erfolg errungen. Dem Gericht zufolge soll Serbien in Zukunft den Einsatz von Schallwaffen auf Demonstrationen verhindern. Eine solche Waffe wurde mutmaßlich im März eingesetzt.

Menschenmenge geteiltGegen 19:11 Uhr teilte sich die Menschenmenge der Demonstrierenden auf einer Länge von mehreren Hundert Metern. – Screenshot / Überwachungskamera

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 29. April 2025 dem Antrag auf eine einsteilige Anordnung gegen den mutmaßlichen Einsatz von Schallwaffen stattgegeben. Fast 50 vom Einsatz betroffene Bürger:innen aus Serbien hatten sich an das Gericht gewandt, nachdem bei der Großdemonstration am 15. März eine unbekannte Waffe gegen die Protestierenden eingesetzt wurde.

Die Beschwerdeführenden hatten laut der Pressemitteilung des Gerichts beantragt, dass der Gerichtshof eine vorläufige Maßnahme erlässt. Demnach sollen die serbischen Behörden erstens den Einsatz von Schallwaffen unter solchen Umständen verhindern. Zweitens verlangten die Beschwerdeführenden, dass niemand strafrechtlich verfolgt werden soll, der sich an der öffentlichen Debatte über den Einsatz einer Schallwaffe am 15. März 2025 beteiligt hat. Und drittens soll der serbische Staat eine wirksame Untersuchung der Vorwürfe durchführen, so die Beschwerde.

3.032 Zeugenaussagen zur Schallwaffe von Belgrad ausgewertet

Zumindest in ersterem Punkt konnten sich die Beschwerdeführenden vollumfänglich durchsetzen: Der Gerichtshof weist mit seiner Entscheidung die serbische Regierung darauf hin, dass sie jeglichen Einsatz von Schallgeräten zur Kontrolle von Menschenmengen sowohl von staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren in Zukunft verhindern solle. Das Gericht stellte zudem fest, dass der Einsatz von solchen Waffen zur Kontrolle von Menschenmengen nach serbischem Recht illegal ist.

Die beiden anderen Anträge der Beschwerde lehnte das Gericht ab. Es macht in der Entscheidung zudem klar, dass es sich um keine Stellungnahme handle, ob solche Waffen am 15. März 2025 eingesetzt worden seien. Die Beschwerdeführenden haben nun einen Monat Zeit, um eine Klage gemäß Artikel 34 (Recht auf Individualbeschwerde) der Konvention einzureichen.

Die serbische Zivilgesellschaft hatte Anfang April eine Auswertung von mehr als 3.000 Aussagen von Zeug:innen des Schallwaffen-Vorfalls in Belgrad vorgelegt. Der genaue Hergang des Vorfalls bei einer friedlichen Großdemonstration der Demokratiebewegung am 15. März ist weiterhin unklar. Die serbische Regierung bestreitet den Einsatz von Schallwaffen oder einer Vortex-Kanone vehement. Präsident Aleksandar Vučić hat gar sein politisches Schicksal mit der Frage verbunden.

Ein von außen kommender Reiz

Klar ist bislang nur: Gegen 19:11 Uhr liefen am 15. März Menschen auf ungewöhnliche Art und Weise auf einer Länge mehrerer Hundert Meter und entlang einer geraden Linie panisch auseinander. Zahlreiche Hinweise von unterschiedlichen Recherchen deuten inzwischen auf eine Koordination verschiedener Störaktionen und Provokationen zu diesem Zeitpunkt hin, bei denen beispielsweise auch Feuerwerkskörper und andere Gegenstände in die Demonstration geworfen wurden.

Teil dieser koordinierten Aktion dürfte aber auch der Einsatz einer Schallwaffe oder einer Vortex-Kanone gewesen sein, denn die Reaktion der Menschenmenge ist nach allen bisherigen Recherchen mit den anderen Störaktionen alleine nicht zu erklären. Der britische Sozialpsychologie-Professor Clifford Stott ist Experte für Massenpsychologie und Polizeieinsätze. Er geht gegenüber dem serbischen Factchecking-Medium „Istinomer“ davon aus, dass die Bewegung der Menschen „stark auf einen von außen kommenden Reiz und nicht auf interne psychologische Prozesse“ hindeute.

Neben zivilgesellschaftlichen Gruppen und Initiativen aus Serbien sowie einer internationalen Recherchegruppe arbeiten auch serbische Medien wie das Nachrichtenmagazin „Vreme“ an einer Rekonstruktion der Ereignisse (€). Die internationale Recherchegruppe, zu der auch netzpolitik.org gehört, hat einen vorläufigen Zwischenbericht (PDF) mit möglichen Erklärungen veröffentlicht.

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Interaktive Karte

Wir haben im Nachgang der Ereignisse zusammen mit Hackern, Aktivisten, Soundtechnikern und Journalisten aus Deutschland und Serbien eine Recherchegruppe gebildet, die sich International Research Group nennt und sich an der Aufklärung des Vorfalls beteiligt. 

Diese Gruppe hat eine interaktive Karte der Ereignisse erstellt, die fortlaufend erweitert wird. Die Karte trägt verfügbares Material zusammen und soll helfen, die Vorgänge am 15. März in Belgrad zu rekonstruieren. Die Karte ist Work-in-Progress, sie enthält auch nicht-verifiziertes Material. Sie ist deswegen mit Vorsicht zu genießen und wird nicht alleine von netzpolitik.org befüllt.

Rot = Ereignisse.  Blau = Kameraaufnahmen des Vorfalls. Gelb = Verdächtiges / Auffälliges / Hinweise. Grün = Zusätzliches Material


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