3 months ago

Ukrainetalk bei Illner: "Wir müssen Russland den schwarzen Peter zuschieben"



In der Ukraine stehen die Zeichen auf Veränderung. Präsident Selenskyj kündigt einen "Siegesplan" an, Bundeskanzler Scholz fordert eine Friedenskonferenz. In der ZDF-Talkshow "Maybrit Illner" diskutieren die Gäste, wie realistisch ein Kriegsende in der Ukraine ist.

In der kommenden Woche will sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit US-Präsident Joe Biden treffen und einen "Siegesplan" vorlegen. Dabei könnte er fordern, dass die Ukraine westliche Langstreckenraketen auch in Russland einsetzen darf. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz bereits abgelehnt, die USA zögern. Selenskyj kritisiert seit Monaten das Verhalten des Westens: "Ich höre immer nur, wir arbeiten daran. Russische und iranische Raketen arbeiten auch, aber leider gegen uns. Und der russische Präsident Putin braucht keine Erlaubnis für seine weitreichenden Raketen."

In der Zwischenzeit ist die Hälfte der ukrainischen Energieinfrastruktur zerstört. Und der Winter steht vor der Tür. Im Donbass rückt die russische Armee langsam und unter großen Verlusten vor. Russlands Gleitbomben bringen Tot und Zerstörung. Unter diesen Vorzeichen plant der ukrainische Präsident offenbar, mit weiteren militärischen Maßnahmen einen zukünftigen Frieden vorzubereiten. Ob das funktionieren kann, ist ein Thema, über das die Gäste am Abend bei Maybrit Illner im ZDF diskutieren.

Einer von ihnen ist der Diplomat Wolfgang Ischinger, der den ukrainischen Präsidenten am Wochenende getroffen hat. "Ich glaube, dass es um zwei Dinge geht", sagt Ischinger. "Es geht einmal darum, dass die Ukraine sich vergewissern möchte, dass sie weiter die politische Initiative hat, um die weitere Entwicklung zu gestalten. Der zweite Punkt ist ein rein militärischer: Selenskyj wird Joe Biden auffordern, Schluss zu machen mit diesen Reichweitenbeschränkungen." Selenskyj sei sich sicher, dass sein Besuch in den USA der Ukraine nach vorne helfe. "Die Erwartungen sind groß", sagt der langjährige Diplomat.

Gysi: Waffenstillstand als Druckmittel

"Die Ukraine hat sicherlich ein Selbstverteidigungsrecht", sagt Linken-Außenpolitiker Gregor Gysi. "Wenn man angegriffen wird, kann man das Land, das einen angreift, zurück angreifen. Das ist völkerrechtlich völlig klar. Ob es auch militärisch klug ist, ist eine andere Frage." Grundsätzlich ist für Gysi klar: Nach den Verbrechen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges dürfe Deutschland keine Waffen in Kriegsgebiete liefern. Und: Weder Russland noch die Ukraine seien in der Lage, den Krieg militärisch zu gewinnen. Davon gehen auch Militärexperten aus. Gysi: "Wenn das stimmt, warum können wir nicht mal ernsthaft über einen Waffenstillstand und über Friedensverhandlungen diskutieren?" Gysis Idee: Der Westen solle Putin einen Waffenstillstand anbieten und als Gegenleistung von Waffenlieferungen an die Ukraine absehen. "Wenn er dann ablehnt, dann würde er ja indirekt sagen, liefert mal weiter Waffen. Wir haben nie versucht, ihn diesbezüglich unter Druck zu setzen, und das verstehe ich nicht."

Gysi irrt hier. Ungarns Staatschef Viktor Orbán hatte im Juli dieses Jahres versucht, Friedensgespräche zu führen. Zwar war die Aktion äußerst umstritten, in der EU-Kommission gab es heftige Kritik. Doch das Ergebnis ist sichtbar: Kaum waren die Gespräche beendet und kaum hatte Orbán Russland verlassen, ließ Putin ein Kinderkrankenhaus in Kiew mit Raketen beschießen.

Strack-Zimmermann: Taurus liefern

Frieden in der Ukraine wollen alle Gäste an diesem Abend bei Illner. Deutlich unterschiedlich wird jedoch die Frage nach dem "wie" beantwortet. Für den "Friedensplan" des ukrainischen Präsidenten gebe es vor allem einen Grund: Nach tausend Tagen Krieg und Zerstörung müsse Selenskyj auch seinem Volk gegenüber in die Offensive kommen, sagt zum Beispiel Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die mittlerweile Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament ist. Sie könne sich auch vorstellen, Selenskyj wolle mit Hilfe der USA den russischen Präsidenten vor eine Alternative stellen: Stopp mit den Luftangriffen auf die Ukraine, oder die ukrainische Armee werde militärische Ziele in Russland vernichten. "Das müsste dann Putin auch vor seiner eigenen Bevölkerung rechtfertigen, die ja glaubt, da wird irgendwo ein Krieg geführt, der Russland nicht wirklich tangiert." Der Schuss könnte jedoch nach hinten losgehen, fürchtet Gysi. Der Beschuss russischer Ziele könnte auch dazu führen, dass die Bevölkerung in Russland die Ukraine und den Westen noch mehr hassen würde, sagt er.

Sicherheitsexperte Frank Sauer von der Bundeswehr-Uni glaubt nicht, dass im Moment die Zeit für Friedensverhandlungen sei. "Ich glaube, beide Konfliktparteien versprechen sich zurzeit mehr von fortgesetzten Gefechten als von Verhandlungen. Das ist die bittere Wahrheit. Und die bittere Wahrheit ist auch, dass die Art und Weise, wie dann verhandelt wird, auf dem Gefechtsfeld vorbereitet wird."

Tatsächlich spricht nichts für Friedensverhandlungen auf ukrainischer Seite, wenn man dem Berater von Präsident Selenskyj glauben darf, der kurz in der Sendung auftaucht. Für das Interview, das leider nur sehr ungenügend übersetzt wird, hat sich Mychajlo Podoljak in einen Bunker zurückgezogen. Glaubt man der Übersetzerin, warnt er vor einem Waffenstillstand. Der könnte von Russland für ein militärisches Upgrade genutzt und von der Politik propagandistisch ausgeschlachtet werden, um danach den Krieg auszuweiten.

Offensivere Gespräche mit Putin

"Wir müssen unsere passive und reaktive Politik der letzten zweieinhalb Jahre zu den Akten legen", fordert Sauer. Auch er denkt, dass es richtig sei, auf Putin zuzugehen. "Wir müssen Herrn Putin endlich mal sagen, diese Beschränkungen, über die wir heute reden, lassen wir fallen, wenn Sie aufhören, mit Ihren Raketen die ukrainische Zivilbevölkerung tagein tagaus zu terrorisieren. Wir müssen ihn mal unter Zugzwang setzen." Der Fehler Europas sei, keine langfristige Perspektive für das Problem zu haben: "Das ist kein Regionalkonflikt, der uns nicht viel angeht. Das ist ein zentrales Problem für die Sicherheit Europas. Und wir haben ein komplettes Vakuum mit Blick auf die Frage, wie wir uns dazu verhalten. Und immer nur reagieren, wenn Putin die nächste Drohung ausgestoßen hat, das geht auf Dauer nicht mehr so."

Was Sauer beklagt, bestätigt Strack-Zimmerman kurz danach indirekt. Ihre Strategie: Weiter Waffen liefern, auch Taurus-Marschflugkörper. Das habe aber in den letzten zweieinhalb Jahren nicht zu Friedensverhandlungen geführt, sagt Gysi. Ja, gibt ihm Strack-Zimmermann recht, seine Strategie aber auch nicht. Denn tatsächlich würden ja diplomatische Verhandlungen geführt - über Gefangenenaustausch oder Getreidelieferungen zum Beispiel.

Am Ende hat man als Zuschauer das Gefühl: Alles, was an diesem Abend bei Illner gesagt wird, habe man schon X-Mal gehört. Aber das stimmt nicht. Neu ist, dass alle Gäste der Ansicht sind, man müsse mit der russischen Regierung sprechen. Und: Man müsse klare Worte finden. Ischinger bringt es auf den Punkt: "Wir müssen den schwarzen Peter an die Russen geben."

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