Die explodierenden Pager sollten die Hisbollah treffen. Doch die Hisbollah ist überall. Vom furchtbaren Preis der neuen Kriegszüge Israels und von einem Land im Schockzustand.
Viel Schadenfreude, wenig Mitgefühl. Auf diese kurze Formel lässt sich bringen, wie Menschen im Libanon die internationalen Reaktionen auf den unfassbaren Horror empfinden, den sie am Dienstag und Mittwoch dieser Woche durchlebt haben. Mit Wörtern wie "raffiniert", "erstaunlich" und "beeindruckend" hätten sogenannte "demokratische Medien" die tausendfachen Explosionen "gefeiert", die zu Dutzenden Toten und Tausenden von Verletzten vor allem im Südlibanon und in der Hauptstadt Beirut geführt haben, moniert auf Facebook der libanesische Journalist Habib Battah, Gründer der Webseite Beirutreport.com und Dozent an der American University of Beirut (AUB).
Stattdessen wird die Technik bewundert
"So kann man nur berichten, wenn man den Menschen, über die man berichtet, jegliches Menschsein abspricht." Würde ein solcher Angriff auf Israel oder die USA ähnlich kommentiert? "Nein", ist sich der Journalist sicher, "die Opfer würden betrauert – aber da es um den Libanon geht, wird die Technik bewundert, die diesen Angriff ermöglicht hat."
Noch sind nicht alle Details bekannt, wie genau der israelische Geheimdienst es geschafft hat, die Lieferkette für tausende von der libanesischen Hisbollah bestellte und verteilte Pager und Funkgeräte zu infiltrieren und Geräte herzustellen und zu liefern, die simultan per Knopfdruck gesprengt werden konnten. Eines aber ist jetzt schon klar: Die Explosionen haben nicht nur enormes menschliches Leid verursacht, sondern ein Volk, das mit großer Resilienz seit Jahren einer Krise nach der anderen trotzt, in einen kollektiven Schockzustand gestürzt.
Der israelische Verteidigungsminister spricht von der "nächsten Phase des Krieges", und die Welt bestaunt "das Meisterstück des israelischen Geheimdiensts" Mossad gegen den Erzfeind Hisbollah. Die Menschen im Libanon aber erleben einen apokalyptischen Endzeitfilm.
"Die Menschen fielen einfach um. Ein kurzer Knall, und im Obstladen liegt ein Mensch blutüberströmt auf dem Boden", beschreibt ein Freund aus Beirut eine Szene, die sich tausendfach im Land abspielte: an Supermarktkassen, in Apotheken, beim Metzger, auf der Straße. Der über lange Zeit hinweg vorbereitete Angriff mag vor allem Mitgliedern und Kämpfern der libanesischen Hisbollah-Miliz gegolten haben – durch die Art der Ausführung und das Timing haben die Angreifer jedoch bewusst in Kauf genommen, dass es jeden und jede im Libanon treffen konnte, überall.
Warum musste die neunjährige Fatima sterben?
Ein ganzes Volk als Kollateralschaden. Wie zum Beispiel erklärt ein Vater seinem zehnjährigen Sohn, warum auf einmal die rechte Hand des Mannes, der eben noch auf einem Motorrad im dichten Beiruter Verkehr neben ihnen fuhr, durch die Luft fliegt, vom Körper getrennt durch die Explosion des Pagers, den er aus der Tasche genommen hatte, weil er gepiept hatte?
Warum musste die neunjährige Fatima Abdullah im südlibanesischen Dorf Saraain sterben? Ihr Verbrechen? Sie war gerade vom ersten Schultag in der 4. Klasse nach Hause gekommen, als sie den Pager ihres Vaters piepen hörte. Sie lief zu dem Gerät, um es ihm zu bringen, nahm es hoch – und es explodierte in ihrer Hand.
Gezielter Angriff auf Terroristen? Wohl kaum. Regel Nr. 11 des Humanitären Völkerrechts besagt: "Unterschiedslose Angriffe sind verboten." Dazu gehören alle Angriffe, "bei denen Kampfmethoden oder -mittel angewendet werden, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden können".
Eine ferngesteuerte Zündung tausender Funkrufempfänger, wo oder in wessen Nähe auch immer diese sich gerade befinden, ist unterschiedslos. Was, wenn einer der Besitzer eines Pagers damit gerade zufällig an Bord eines Flugzeugs gewesen wäre? An einer Tankstelle sein Auto mit Benzin befüllt hätte? Einen Lastwagen durch ein belebtes Viertel oder auf einer Autobahn gesteuert hätte? Terror ist die Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen. Passender kann man die ferngesteuerte Zündung Tausender manipulierter Kommunikationsgeräte nicht beschreiben.
Die Panik im Libanon ist allgegenwärtig und betrifft alle, egal ob Verbündeter oder Todfeind der Hisbollah. In Todesangst haben Menschen die Batterien für ihre Solarzellen vom Netz genommen, weil es Gerüchte gab, dass auch Solaranlagen ferngesprengt worden seien. Dabei ist der Solarstrom im Libanon angesichts des maroden und völlig überforderten staatlichen Stromnetzes der einzige Weg, einigermaßen verlässlich mit Strom versorgt zu sein.
Libanon: Das Land, in dem Kommunikationsmittel zur Gefahr werden
Auch Mobiltelefone, eigentlich ständige Begleiter fast aller Libanesen, machen Angst. "Schalte sofort dein Handy aus", schrie in einer der unübersichtlichen Straßenszenen der letzten Tage eine Frau – in ihr Handy, der Person am anderen Ende zu, sich der Ironie der Szene sichtlich nicht bewusst.
Denn was machen Menschen in einer unübersichtlichen Notlage mit vielen Verletzten, viel Angst und wenig verlässlichen Informationen? Sie versuchen, ihre Liebsten zu erreichen, wollen sich versichern, dass die Familie, die Kinder, der Ehemann unversehrt sind – was aber tun, wenn das Kommunikationsmittel selbst zur tödlichen Gefahr wird? Der ägyptische Satiriker Bassem Youssef drückte es so aus: "Und plötzlich sind mein Telefon, unsere Überwachungskamera, die Tablets unserer Kinder Zeitbomben, die auf Geheiß eines Landes explodieren. Ein ganzes Land als Geisel. Die ganze Welt als Geisel."
"Ich traue mich nirgendwo mehr hin"
Vor einer unterschiedslosen Kriegsführung, das ist seit Monaten im Gazastreifen zu beobachten, gibt es keinen Schutz, kein Entkommen. Zivilisten, egal wie viele, egal ob Kinder oder Frauen, werden zum legitimen Kollateralschaden erklärt. "Hisbollah ist überall", sagt Amal Hassan* aus der südlibanesischen Stadt Tyr, die nur knapp 30 Kilometer von der israelischen Nordgrenze entfernt liegt. "Ich traue mich nirgends mehr hin, nicht einmal ins Fitnessstudio, weil jeder jederzeit überall angegriffen werden kann."
Dabei war das Fitnessstudio über die vergangenen Monate eine letzte Zuflucht gewesen, seit sie wegen der ständig über Tyr kreisenden Drohnen das Joggen aufgegeben hat. "Das mag banal erscheinen – aber Sport war für mich ein Weg, nicht in eine Depression zu verfallen."
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Denn in Tyr und dem gesamten südlichen Libanon entlang der Grenze zu Israel herrscht seit fast einem Jahr praktisch Ausnahmezustand. Viele Dörfer stehen leer, weil die Bewohner bei Verwandten in nördlicheren Landesteilen Zuflucht gesucht haben. Über Monate hinweg lebte der Libanon eine geteilte Realität: Kriegsalltag mit Drohnen- und Raketenangriffen im Süden, Partysommer trotz Wirtschafts- und politischer Krise im Rest des Landes.
Jetzt ist das Land wieder vereint: in der Angst vor dem Terror aus der Hosentasche.
* Name von der Redaktion geändert.