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stern-Rekonstruktion: „Und dann platzte ihm die Hutschnur“: Wie Merz der CDU seinen AfD-Kurs aufzwang



Warnungen, Chaos, heikle SMS: Der stern hat rekonstruiert, wie Friedrich Merz seine Partei zu einem neuen AfD-Kurs drängte. Über ein Manöver, das die CDU im Kern erschüttert.

Donnerstagabend vergangener Woche, es geht auf Mitternacht zu. Friedrich Merz sitzt in seiner Berliner Wohnung ein paar hundert Meter vom Bundestag entfernt und schaut in einen Bildschirm. Er könnte jetzt auch nach rechts Richtung Alexanderplatz schauen, oder nach links ins südliche Berlin, seine Gäste schwärmen oft über den Blick aus seinem Apartment. Aber Merz, so hat er das dieser Tage formuliert, will nicht mehr nach rechts schauen oder nach links – nur noch geradeaus. 

Was er meint: Ich mache das. Ich ziehe das durch. 

Vor ihm, im Bildschirm, sieht er die versammelte Führungsriege der CDU, das Präsidium. Es geht um die harten Asylpläne des Parteichefs. Das Messerattentat in Aschaffenburg sieht er als Zeitenwende in der Migrationspolitik. Merz will die Grenzen dicht machen, mehr Menschen abschieben, Ausreisepflichtige in Haft nehmen. „Ich lasse das nicht mehr laufen“, sagt Merz in die Kamera. Und deutet plötzlich ein Manöver an, das in die Geschichte eingehen wird: „Und wenn die AfD mitstimmt, dann stimmt sie eben mit.“ 

Friedrich Merz und die Asyldebatte

Die Folgen dieses Satzes haben in dieser Woche eine Wucht entfaltet, wie es selten vorkommt. Erstmals verhalf am Mittwoch die AfD der Union im Bundestag zu einer Mehrheit. Drei Wochen vor der Bundestagswahl befindet sich das Land in Aufruhr, Angela Merkel distanziert sich von ihrer Partei, das Schicksal von Merz ist offen. 

Der schwarze Freitag 5:57

Er, der über Monate schon wie der sichere Sieger aussah, gilt plötzlich als Mann, der auf Kosten der politischen Mitte um das persönliche Fortkommen zockt. Der entweder Kanzler wird – oder die Union mit seinem abenteuerlichen Manöver in den Abgrund reißt. Und die politische Kultur gleich mit.  

Der stern hat rekonstruiert, wie es zu diesem Manöver kam, hat mit vielen Beteiligten gesprochen, ihre Schilderungen abgeglichen, Formulierungen überprüft. Entstanden ist das Protokoll einer Partei, die so chaotisch wie selbstverschuldet in eine schwere Krise schlittert. Und das Bild eines Vorsitzenden, der zerstören könnte, was er über Jahre mühsam aufgebaut hat: die Einigkeit der letzten großen Volkspartei. 

Fehler 1: Überschäumende Gefühle 

Alles nimmt seinen Lauf ab Mittwoch vergangener Woche. Am Nachmittag kursieren erste Meldungen zum Messerangriff in Aschaffenburg. Das tote Kind ist zwei Jahre alt, der Täter ein ausreisepflichtiger Afghane. Eine weitere Horrortat mitten im Wahlkampf. 

Angela Merkel 10:39

Noch am Abend bespricht sich Merz mit seinem engsten Führungszirkel. Sein Generalsekretär Carsten Linnemann ist dabei, auch Alexander Dobrindt von der CSU. Der Parteichef wirkt auf andere an diesem Abend emotional äußerst angefasst. Merz, der sieben Enkel hat, sei wegen des ermordeten Kindes „die Hutschnur“ geplatzt, heißt es später. Die These von Merz und seinen Vertrauten: Dieser Angriff ändere alles im Wahlkampf.  

Man müsse strategisch umschwenken: weg von der Wirtschaftspolitik, hin zu einer harten Asylpolitik. Vor allem Dobrindt, der Statthalter von CSU-Chef Markus Söder in Berlin, fordert eine Umkehr. Es brauche jetzt Entschlossenheit in Migrationsfragen, das ist der Tenor. Ansonsten gewinne nur die AfD. Merz teilt das, er hat direkt nach dem Messerangriff mit Dieter Romann telefoniert, dem Chef der Bundespolizei, einem harten Gegner von Angela Merkels Flüchtlingskurs. Ahnt die Runde, welch hohes Risiko in dem Schwenk liegen könnte? Merz hat in der Wirtschaftspolitik höchste Kompetenzwerte, Migration ist das Kernthema der AfD. 

Merz und seine Leute stehen auch unter dem Eindruck der Bilder Donald Trumps. Sie haben im Kopf, wie der US-Präsident gleich an Tag eins seiner Amtszeit Dutzende Dekrete unterschreibt, um zu zeigen: Andere reden, ich handle. Wollen nicht auch die Menschen in Deutschland endlich mal Taten sehen? 

Es entsteht die Idee, fünf harte Punkte für eine echte Asylwende vorzulegen, um Druck auf Olaf Scholz auszuüben, den Kanzler. Und Dobrindt spielt dem Vernehmen nach folgende Idee ein: Merz könnte doch quasi schon vor der Wahl auf seine Richtlinienkompetenz als Kanzler verweisen, um klarzumachen: Ich werde an Tag eins den Schalter in der Migrationspolitik umlegen. Ein bisschen Trump, wenn man so will. Merz bittet um Bedenkzeit. 

Fehler 2: Der Rausch

Am Donnerstagmorgen beherrscht die Tat von Aschaffenburg sämtliche Nachrichten. Dass der Mörder ein Kleinkind vor den Augen anderer Kinder kaltblütig erstach, sorgt für allgemeines Entsetzen. Merz hat sich über Nacht entschieden, mit dem Dobrindt-Plan an die Öffentlichkeit zu gehen, darunter mehr Abschiebungen, mehr Ausreisehaft und dauerhafte Grenzkontrollen an Tag eins seiner Kanzlerschaft – notfalls per Richtlinienkompetenz.  

Als Ort für seinen Auftritt wählt er den Bundestag, nicht die Parteizentrale, wohl auch, um dem Statement mehr Gewicht zu verleihen. Um elf Uhr stellt er sich vor eine Wand auf der Fraktionsebene. „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht“, sagt Merz mit schneidender Stimme. „Ich gehe keinen anderen und wer ihn mit mir gehen will, muss sich nach diesen fünf Punkten richten. Kompromisse sind zu diesen Themen nicht mehr möglich.“  

Unter den anwesenden Journalistinnen und Journalisten, die für das knappe Statement auf die Fraktionsebene in den Reichstag gekommen sind, macht sich Ratlosigkeit breit. Will er das sofort als Antrag im Bundestag einbringen? Handelt es sich bei den Punkten um Bedingungen für eine Koalition? Außer der AfD wäre niemand bereit, seinen beschriebenen Weg ohne Änderungen mitzugehen. Eine Nachfrage dazu lassen seine Mitarbeiter nicht mehr zu. Als der Chef verschwunden ist, schütteln seine Mitarbeiter über solche Diskussionen nur den Kopf. Um die AfD? Gehe es doch überhaupt nicht. Das sei ja absurd. 

Forsa Blitzumfrage Merz 19:16

Was Merz in den Folgestunden beobachten kann: Sein Auftritt kommt an, die Sätze lösen etwas aus, sie laufen in den Nachrichten, den sozialen Medien, die Parteibasis scheint elektrisiert, euphorische Zuschriften erreichen die Parteizentrale in Berlin. Der Kanzlerkandidat bestimmt den Takt – nicht Scholz, nicht die AfD. Endlich mal ein Ruck, endlich mal Energie und Emotion.  

Es läuft gut. Zu gut? Lässt er, der in wenigen Wochen eine der größten Volkswirtschaften der Welt führen will, sich von dieser Stimmung davontragen? 

Donnerstagabend, 22.05 Uhr. Merz sitzt in seiner Wohnung, er ist ein paar Minuten zu spät für die Videoschalte mit dem Präsidium, weil seine Rückfahrt aus Hamburg länger dauerte. Er will den Kurs jetzt klären. Geschlossenheit, Rückhalt, das ist besonders wichtig drei Wochen vor der Wahl.  

Die Stimmung in der Runde: eindeutig. Alle teilen seine Analyse, dass sich in der Asylpolitik sofort etwas ändern müsse, einzelne haben fachliche Bedenken, was die Umsetzbarkeit angeht. Doch es gibt vor allem Lob. Merz, der sich immer stärker in die Details des brutalen Messerangriffs vertieft, wirkt auf manchen Parteifreund wie unter Strom. Er spricht von einem „game changer“ und davon, in der Migrationspolitik jetzt „all in“ gehen zu wollen. Die Union leide seit Jahren an einem Glaubwürdigkeitsdefizit in der Frage. Deshalb brauche es einen Antrag. Dann fällt kurz vor Ende der Schalte der Satz, der alles ändert. „Und wenn die AfD mitstimmt, dann stimmt sie eben mit.“ 

Hat er nicht im November noch betont, nie auf eine „Zufallsmehrheit“ im Bundestag setzen zu wollen? Leitet Merz, der vor wenigen Tagen noch sein persönliches Schicksal als Parteichef an die Brandmauer knüpfte, hier gerade eine Kehrtwende ein? Glaubwürdigkeit ist wichtig in Wahlkämpfen, entscheidend sogar. Denkt Merz daran, was auf dem Spiel steht? 

Viele Teilnehmer verstehen die Tragweite des Satzes in diesem Moment noch nicht. Das mit dem Antrag habe ohnehin keine große Konsequenz, beschwichtigt dann auch noch Thorsten Frei, Merz' Fraktionsmanager. Für eine solch spontane Initiative brauche man eine Zweidrittelmehrheit. Alles halb so wild. Die Runde geht ohne weitere Debatte auseinander. 

Fehler 3: Der Poker 

Am Freitagmorgen macht plötzlich eine SMS die Runde, in der CDU, unter Journalisten, im Bundestag. Herkunft? Unklar. Man werde „ohne Rücksicht“ auf die AfD „in der Sache sehr klare“ Anträge in den Bundestag einbringen. „Das gilt auch dann, wenn nur die AfD unsere Anträge unterstützt“. Die SMS schlägt im politischen Berlin ein wie eine Bombe. Sie schreckt die Partei auf, die politische Konkurrenz – aber stimmt der Inhalt wirklich? 

Wieder tritt Merz im Bundestag auf, am Rande eines Termins zur Außenpolitik. Er bestätigt öffentlich sein Vorgehen. Energisch rechnet er vor, dass es gar keine Mehrheit aus Union und AfD gebe, die Medien blind einer AfD-Erzählung hinterherliefen. „Können diese Menschen alle nicht rechnen?“, fragt er ermpört. Die Union werde ihre Anträge nun in den Bundestag einbringen und dann könne mitstimmen, wer will. Er scheint in diesem Moment wirklich zu glauben, SPD und Grüne noch für komplette Grenzschließungen gewinnen zu können. Er sagt aber auch: „Ich bringe doch einen Antrag nicht deshalb nicht ein, weil die AfD mitstimmen könnte.“  

PAID Merkel zu CDU 15:52

Den Präsidiumsmitgliedern wird plötzlich klar, was am Vorabend viele nicht verstanden, vor Müdigkeit vielleicht, aber auch, weil Geschäftsführer Frei so beschwichtigte: Die Union hat sich eine Brandmauerdebatte eingehandelt, drei Wochen vor der Wahl – und die Partei läuft auf eine Zäsur zu: eine Mehrheit mit der AfD.  

Genau das sollte ja in diesem Wahlkampf vermieden werden. Von der “Natter” AfD hatte Merz deshalb intern mehrfach gesprochen. Aber das ist ihm jetzt alles egal. Am Nachmittag setzt Generalsekretär Linnemann noch einen drauf: „Das Nazi-Bashing gegen die und das Brandmauergerede müssen aufhören.” Es klingt in den Ohren mancher liberaler Unionsvertreter wie ein Angebot zur Zusammenarbeit, wie ein Dammbruch mit Ansage. Gibt es eine Sprachregelung, eine Idee davon, wie genau man jetzt agiert? 

Im Laufe des Wochenendes erreichen Friedrich Merz Nachrichten von führenden Parteimitgliedern, Linnemann telefoniert fast ununterbrochen. Mancher versucht jetzt seinen Einfluss geltend zu machen, um eine mögliche Mehrheit mit der AfD noch zu verhindern, es sind besonders erfahrene Parteimitglieder, die sich melden, sie sehen es voraus: Die Brandmauerdebatte mitten in der Woche des Holocaustgedenkens ist das schlimmstmögliche Symbol.  

Fehler 4: Mit dem Kopf durch die Wand 

Die Versuche bleiben erfolglos. Linnemanns Linie ist klar: “Wir ziehen das jetzt durch.” Am Samstag, um 19.36 Uhr, verschickt Jakob Schrot, Planungschef von Friedrich Merz im Bundestag, zwei hektisch geschriebene Anträge per Email an die Büros der Fraktionschefs von SPD und Grünen. Kein Gesprächsangebot, nur dieser Satz: „Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet die Fraktionen SPD, Bündnis90/Die Grünen und die FDP um Prüfung, ob sie diesen Anträgen zustimmen wollen.“ 

Merz selbst, so wird es erzählt, führt keine Gespräche mit den anderen Fraktionschefs, nicht mal mit Rolf Mützenich, zu dem er ein vertrauensvolles Verhältnis pflegt. Anrufe von hochrangigen Grünen beantwortet Merz angeblich nicht. Bei beiden Parteien wächst der Eindruck: Merz will weder verhandeln noch eine echte Zusammenarbeit – er will mit dem Kopf durch die Wand. Er bestätigt damit scheinbar ein Vorurteil, das es seit Jahren über ihn gibt, das der Hitzköpfigkeit, der Impulsivität. Aber er versucht auch etwas ganz Neues: Die AfD mal auf ihrem eigenen Themenfeld zu schlagen, um sie zu schwächen. 

Schon gegen 20 Uhr am Samstagabend landen die beiden Anträge bei Journalisten, auch beim stern. Die Parteigremien werden vorher nicht nochmal informiert, heißt es. Merz will sich seinen Plan offenbar nicht zerreden lassen Er will das Momentum nutzen, spürt sich im Aufwind. Bei einem Auftritt am Sonntag im Münsterland wird er von den Besuchern bejubelt, die Halle platzt, viele kommen gar nicht erst rein. “Er hat uns alle vor vollendete Tatsachen gestellt”, sagt ein führendes Mitglied der CDU später. 

Fehler 5: Das Unterschätzen der AfD 

Schon unmittelbar nachdem Merz seinen Fünf-Punkte-Plan einige Tage zuvor vorgestellt hatte, war die AfD elektrisiert. Man habe sofort geschaut, welche Gesetzentwürfe noch so herumlägen, heißt es aus der Fraktionsspitze – und das “Zustrombegrenzungsgesetz” gefunden: ein Gesetz der Union, das seit dem Sommer diskutiert wird, mit schärferen Regeln für Asylbewerber. Das erste Mal wurde darüber an einem anderen historischen Tag abgestimmt: dem 6. November 2024, ausgerechnet an dem Tag, an dem die Ampel-Koalition zerbrach. Auch damals stimmt die AfD dem Gesetzentwurf schon zu. 

Die Truppe von Alice Weidel entwickelt einen perfiden Plan: Falls die CDU zögere, den Entwurf zur Abstimmung zu stellen, werde es die AfD einfach selbst tun. Die Debatten darüber dringen rasch zur Union und erhöhen den Druck auf Merz. Er ist jetzt Gefangener seines eigenen Plans. 

Dabei meinte man vorgebaut zu haben: Die Anträge wurden ergänzt um AfD-kritische Passagen. Die Partei nutze "Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden" seien, "um Fremdenfeindlichkeit zu schüren", heißt es darin. Die AfD sei kein Partner, sondern der politische Gegner. In der Union hält man das für einen geschickten Schachzug: Die AfD müsse nun entweder ablehnen – oder sich selbst Verfassungsfeindlichkeit bescheinigen. Es kommt anders.  

Am Montagmorgen, 8 Uhr, telefoniert sich der AfD-Bundesvorstand zusammen. Die CDU-Anträge tauchen erst unter dem letzten Tagesordnungspunkt "Verschiedenes" auf, da ist es schon gegen 9 Uhr. Und Weidel gibt die Linie vor: Zustimmung. Für sie ist es eine nüchterne Abwägung: Die Vorteile übersteigen die Nachteile. Erstmals steht die AfD zumindest symbolisch vor der Gestaltungsmacht im Deutschen Bundestag. Die kritischen Sätze im Antrag sind der Preis, der zu zahlen ist. Ihr Parteivize Stephan Brandner ist skeptisch, er zitiert intern Erich Kästner: "Was immer auch geschieht, nie sollt ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken!" Doch Weidel setzt sich durch. 

Es ist wie bei der Geschichte vom Hasen und vom Igel. Merz hält sich für den klugen Igel, den intellektuell Überlegenen, ab diesem Moment aber ist der Kanzlerkandidat leider nur der Hase. 

Fehler 6: Ignorieren von Widerspruch 

Fast parallel zur AfD schaltet sich im Konrad-Adenauer-Haus auch das Präsidium der CDU zusammen. Ab 10 Uhr hat Friedrich Merz kurzfristig zu einer Sitzung des Bundesvorstands eingeladen: Die Führung soll eingeschworen werden auf den Plan. Doch es gibt jetzt deutliche Kritik am Inhalt des Fünf-Punkte-Plans: Man verspreche hier Dinge, die kaum umzusetzen seien. Der CDU-Landeschef von Niedersachsen, Sebastian Lechner, regt in der Runde an, nochmal über das Prozedere nachzudenken, das Gesetz womöglich noch abzuräumen. Auch mehrere Ministerpräsidenten äußern sich kritisch zum Plan, eine Mehrheit mit der AfD auch nur in Kauf zu nehmen. Die Runde dauert eine halbe Stunde länger als geplant. Letztlich bleibt es dabei: Merz will seinen Plan durchziehen. Nur geradeaus gucken. 

Kommentar Merkels Affront 12:14

In der Schalte des Bundesvorstands, ein deutlich größeres Gremium, schwört Merz die Partei auf seine Linie ein: Er brauche "die Freiheit, Entscheidungen zu treffen", sagt Merz Teilnehmern zufolge. Es brauche für den Wahlerfolg jetzt "absolute Geschlossenheit", mahnt der Kandidat. Trotzdem meldet sich Daniel Günther zu Wort, der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, wiederholt als einziger die breite Kritik aus dem Präsidium: „Meine dringende Bitte: Versucht es hinzubekommen, ohne dass die AfD zustimmt.“ Merz überhört ihn. Er sieht ihn ohnehin als Genossen Günther, als verkappten Sozialdemokraten. Dabei verdeutlicht Günther nur, wie sehr es schon jetzt brodelt in der Partei. Besonders bei denen mit Regierungsverantwortung. 

Doch Merz ist nicht mehr zu stoppen. Später am Tag schwört er die Fraktionsführung auf seinen Kurs ein: “Wer in ein Wespennest sticht, muss richtig zugreifen", sagt er intern. Jetzt wird beschlossen, zusätzlich zu den beiden Anträgen auch das Zustrombegrenzungsgesetz selbst auf die Tagesordnung zu setzen, bevor die AfD das tut. Man will sich nicht von der AfD vorführen lassen. “Flucht nach vorn”, nennt das später ein Mitglied des Fraktionsvorstandes. Nur Antje Tillmann, die Thüringer Abgeordnete, widerspricht. Sie wird sich später bei der Abstimmung als einzige Abgeordnete gegen Merz stellen. 

Fehler 7: Zu späte Erkenntnis

Nächster Tag, Dienstag, kurz nach 15 Uhr. Fraktionssitzung im Reichstagsgebäude. Merz spricht einige Worte, dann meldet sich seine Stellvertreterin Andrea Lindholz zu Wort. Ihr Wahlkreis: Aschaffenburg. Sie sitzt wie seine anderen Vizes vorn im Saal neben Merz, steht auf, schaut in die Gesichter der Abgeordneten. Dann liest sie Auszüge aus dem Polizeibericht vor: “Am Mittwoch, 22.01.2025, um 11:45 Uhr, befand sich der spätere Tatverdächtige im Park Schöntal in Aschaffenburg und hörte laut Musik. Die Erzieherinnen hatten beim Anblick des Tatverdächtigen ein ungutes Gefühl und änderten ihre Laufrichtung”, liest sie vor. “Der Tatverdächtige passierte sodann die Kita-Gruppe, zog einem im Bollerwagen sitzenden zweijährigen deutschen Jungen marokkanischer Herkunft die Mütze und den Schal aus und stach ohne weitere Vorankündigung mit einem 32 cm langen Küchenmesser mehrfach auf den Hals und Schulterbereich des Jungen ein.” Abgeordnete haben Tränen in den Augen. Der Ton der internen Debatte ist damit gesetzt. Widerspruch schwer. Manch einer spricht hinterher von einer gezielten Emotionalisierung. “Denn strategisch macht das Vorgehen ja keinen Sinn”, sagt ein erfahrener Abgeordneter. 

In der SPD ist man entsetzt. Offiziell. In der SPD-Kampa können sie ihr Glück über das Vorgehen der Union dagegen kaum fassen, endlich funktioniert das alte Feindbild Friedrich Merz wieder.  

Analyse Merz Asylmanöver 6:10

Es ist Mittwoch, Bundeskanzler Olaf Scholz soll eigentlich eine Regierungserklärung abgeben zu den mörderischen Attacken in Aschaffenburg und Magdeburg. Stattdessen kann er mehr als eine halbe Stunde lang seinen Kontrahenten Merz mit Vorwürfen überziehen. Er wirft Merz Rechtsbruch vor, stellt ihn in eine Reihe mit Autokraten: "Das größte Land der EU würde EU-Recht brechen, wie es bisher nur Viktor Orbán tut”, ruft Scholz. “Das hätte kein deutscher Bundeskanzler jemals getan." Schon abends sind neue Plakate fertig: “Mitte statt Merz”, steht drauf.  

Im Plenarsaal wartet Merz auf seinen Einsatz, hat die Arme vor der Brust verschränkt. Das Kinn auf diese typisch merzsche Art vorgeschoben, wenn ihm etwas gar nicht passt. Ins Plenum kam er eine halbe Stunde zuvor fast reingeschlendert, ganz so, als wäre nichts. Eine kämpferische Rede wird es, keine historische, ein klassischer Merz eben. Er beendet sie mit den Worten: “Ich werde nach der Bundestagswahl alles dafür tun, dass wir nie wieder, nie wieder in eine solche Lage kommen, wie wir sie heute zu meinem allergrößten Bedauern hier im Deutschen Bundestag diskutieren müssen.”  

Später am Nachmittag kommt das Ergebnis der Abstimmung: 348 zu 344 Stimmen. Der Antrag für einen faktischen Einreisestopp nach Deutschland wurde angenommen – die Stimmen der AfD haben entschieden. Die Zäsur ist zur Realität geworden.

Viele Abgeordnete der Union sitzen mit eingefrorenen Mienen im Plenarsaal. Links von ihnen klatscht und johlt die AfD. Die Abgeordneten versammeln sich um Fraktionschefin Alice Weidel zum Erinnerungsselfie, beglückwünschen sich, Handshakes. Es ist ein gruseliger Moment für die Geschichtsbücher. Merz hat ihn herbeigeführt. “Sehenden Auges”, wie es später Angela Merkel formuliert. 

Noch einmal geht er ans Pult. Da steht ein anderer Friedrich Merz als vor der Abstimmung, ein nachdenklicher, ein verstörter Friedrich Merz. Versteht er erst in diesem Augenblick die historische Bedeutung seiner Tat? “Ich suche in diesem Deutschen Bundestag keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments”, sagt der CDU-Chef. Abgeordnete von Grünen und SPD lachen ihn aus. So vermerkt es das Plenarprotokoll. “Und wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das.” Er wirkt zerknirscht, der Satz aber klingt, als sei er jemandem versehentlich auf den Fuß getreten. Dabei hat er gerade die Koordinaten des politischen Systems der Bundesrepublik verschoben. 

Fehler 8: Nicht an den Tag danach denken

Er unterbreitet beiden Parteien nochmal ein Angebot, plötzlich klingt es aufrichtig. Er wolle das Zustrombegrenzungsgesetz, das am Freitag auf der Tagesordnung steht, mit ihnen beschließen. SPD-Parteichef Lars Klingbeil schüttelt energisch den Kopf, ruft: „Sie glauben doch nicht, dass wir nach der Geschichte mit Ihnen jetzt noch zusammenarbeiten!” 

Diese Geschichte. Das klingt fast nebensächlich. Dabei sind es historische Tage, vielleicht: eine politische Zeitenwende. Hier scheitert gerade ein Kanzlerkandidat oder macht sich zum nächsten Kanzler. Hier ist ein Rezept gegen die AfD entdeckt oder wird ihr Steigbügel gehalten. 

Der Tag nach der Bundestagsdebatte, nach der Zäsur. Angela Merkel stellt sich gegen Merz. Peter Altmaier kritisiert die Entscheidung. Tobias Hans, der frühere saarländische Regierungschef, genauso. Michel Friedman tritt aus der CDU aus. Der Holocaustüberlebende Albrecht Weinberg gibt sein Bundesverdienstkreuz zurück.  

In der Union reagieren die einen kämpferisch. Im Bundestag haut eine Abgeordnete mit ihren Fäusten auf den Tisch: “Wir wollen den Brand hinter der Brandmauer löschen, nicht die Mauer abbrennen.” Sie wirkt aufgebracht. Ein anderer Abgeordneter sagt: “Über uns wird in den nächsten Tagen ein Orkan hinwegfegen. Aber wenn wir umkippen, war’s das für uns.” Liberale Vertreter der Partei wirken aufgelöst, verstört von dem, was geschah – sie fühlen sich überrumpelt von Merz, überfahren von der Geschichte, ratlos. Zur Solidarität gezwungen. 

Presseschau Bundestag 6:55

Am Nachmittag greift Merz zum Telefon. Er ruft Rolf Mützenich an, den SPD-Fraktionschef. Jetzt doch. Von ihm erhofft er sich Unterstützung, er will nicht noch einmal mit der AfD abstimmen. Es ist ihm zuwider – nur zurück kann er auch nicht. Knapp fünf Minuten dauert das Gespräch. Mützenich, so heißt es, lässt Merz abblitzen: Nur wenn die Union das Gesetz von der Tagesordnung nehme, könne es überhaupt Gespräche nehmen. Merz lehnt ab.  

„Wahlkämpfer haben immer recht!“ So hatte es Jens Spahn am Montag in der Schalte des Bundesvorstandes gesagt. Man konnte das als maximale Zustimmung werten – oder als Fingerzeig: Der Kandidat trägt die Verantwortung für seinen Ritt auf der Rasierklinge – und für die Konsequenzen. Verliert er seine Wette, geht die Union jetzt sogar runter, kann er sich die Kanzlerschaft abschminken, sagen jetzt die ersten.  

Und selbst wenn er trotz allem als erster über die Ziellinie geht: Kanzler ist Friedrich Merz nach den Zerwürfnissen dieser Tage noch lange nicht. 

Mitarbeit: Martin Debes, Tom Kollmar, Florian Schillat, Martin Schmidt

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