Ein einziges Spektakel war der US-Wahlkampf in diesem Jahr. Kurz vor seinem Ende ist völlig offen, wer gewinnt. Klar ist nur eines: So etwas wie in den vergangenen Monaten hat es noch nie gegeben. Und gibt es auch hoffentlich nie wieder.
Wo waren Sie am 13. Juli 2024? Sie wissen es nicht auf Anhieb? Seltsam, dabei dachten doch so viele an jenem Samstag, dies sei der alles entscheidende Moment des US-Wahlkampfes. Am 13. Juli eröffnete ein junger Mann das Feuer auf Donald Trump. Bei einer Wahlkampfrede in Butler (Pennsylvania) gab er mehrere Schüsse auf den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner ab. Ein Projektil traf ihn am Ohr. Der Ex-Präsident ging zu Boden, wurde schnell von Secret-Service-Agenten umringt und vom Podium gezerrt. Dann dieser Moment: Trump reckt die Faust in die Höhe und seine Lippen formen die Worte "Fight, Fight, Fight!". Das war's, dachten viele. Mit diesen ikonischen Bildern hat Trump die nächste Präsidentschaft in der Tasche.
Tja. Kurz vor dem tatsächlich entscheidenden Tag, dem 5. November, ist nur eines klar: dass nichts klar ist. Ein so enges Rennen hat es wohl noch nie gegeben. Alles sieht nach einem Fotofinish aus. Die einen glauben, Trump gewinnt. Manche aus dem Harris-Team geben sich vorsichtig optimistisch. Hat Trump nun seine Rede in New York geschadet, weil dort Puertoricaner beleidigt wurden? Hat Harris mit ihrem Auftritt vor dem Weißen Haus alles richtig gemacht? Oder wäre es nicht besser gewesen, das irgendwo anders als in Washington zu machen? Denn die Hauptstadt verbinden die Wähler doch gerade mit den angeblich korrupten und abgehobenen Politikern, die sie loswerden wollen.
Die Antwort liegt auf dem Platz, wissen Fußballfans - in diesem Fall an der Wahlurne. Fußball ist ein gutes Stichwort. Denn diese US-Wahl ist so etwas wie die Fußball-Weltmeisterschaft der Demokratie. Alles ist groß, alles ist extrem. Nirgendwo geht es um mehr - nicht, wie ursprünglich mal, um die Frage, ob das Land ein bisschen mehr nach links oder rechts driftet. Nein, diesmal geht es um alles. Um die Demokratie selbst.
Was ist wichtiger? McDonald's oder Taylor Swift?
Der Oberste Gerichtshof der USA hat geurteilt, dass der US-Präsident im Amt praktisch keine Straftaten begehen kann. Trump dürfte zwar weiterhin niemanden auf der Fifth Avenue in New York erschießen. Aber er könnte das Justizministerium zu seiner persönlichen Ermittlungsbehörde umbauen und seine Gegner jagen. Trump werde mit einer Feindesliste ins Weiße Haus einziehen, sagt Harris. Sie dagegen mit einer To-do-Liste. Wird Trump tatsächlich die Demokratie abschaffen? Dass man die Frage stellt, ist vielsagend genug. Ein lupenreiner Demokrat ist Trump jedenfalls nicht.
Mit der Fußball-WM hat diese Wahl noch etwas gemeinsam: Die ganze Welt schaut zu. Egal kann das Ergebnis niemanden sein. Nicht in Europa, nicht in Russland, nicht in China. Und alle fiebern mit wie im Stadion. Hat Trump mit seinem Auftritt bei McDonald's gepunktet? Bringt der Beistand von Beyoncé, Bruce Springsteen und Taylor Swift der Demokratin den entscheidenden Schub?
Der Wahlkampf scheint nach dem Motto zu laufen: Darf's ein bisschen mehr sein? Die Schüsse auf Trump sicher einer der hervorstechenden Momente dieses Wahlkampfes. Aber mitnichten waren sie alles entscheidend. Das gilt auch für Trumps zahlreiche Prozesse. Dass auf der einen Seite erstmals ein in 34 Fällen verurteilter Straftäter antritt, der auch noch eine Handvoll weiterer Prozesse am Hals hat, verkommt fast schon zur Fußnote. So wie das zweite, vereitelte Attentat auf Trump in Florida. Das Urteil gegen Trump hätte in jedem Wahlkampf ohne Trump zum K.O. geführt. Aber nicht in diesem.
Historisch, historisch, historisch
Dafür waren die vergangenen Monate zu verrückt, zu überdreht und vor allem viel zu kurzatmig. Was heute die Schlagzeilen bestimmte, war morgen schon wieder fast vergessen. So war es auch mit dem Trump-Urteil Ende Mai und dem Attentat am 13. Juli. Denn nur eine Woche später folgte der nächste Knaller: Die Demokraten wechselten den Kandidaten. Joe Biden verzichtete, dafür übernahm Kamala Harris, die Vizepräsidentin. Allein schon deswegen ist dieser Wahlkampf der verrückteste Wahlkampf der Geschichte gewesen.
Historisch war das Duell Trump gegen Biden auch schon. Noch nie hatten zwei so alte Männer kandidiert. Beide mit so desaströsen Beliebtheitswerten, dass viele Amerikaner fragten: Sind das wirklich die besten Kandidaten, die unser Land zu bieten hat? Dann kollabierte der Amtsinhaber rhetorisch im ersten TV-Duell. Mehr und mehr Demokraten stellten sich offen gegen ihn, denn sein Auftreten sprach für sich. Dass er auch in drei oder vier Jahren dem härtesten Amt der Welt noch gewachsen sein würde, glaubten am Ende womöglich nur noch Biden selbst und seine Frau Jill. Die Stimmung schien zu sein: Wer sagt es ihm?
Als Biden dann ein Einsehen hatte, wurde es wieder historisch. Für die Situation gab es kein Drehbuch. Was macht man, wenn der designierte Präsidentschaftskandidat zurücktritt? Eigentlich werden die Kandidaten durch Vorwahlen in 50 Bundesstaaten ermittelt. Ein Verfahren mit einem unschätzbaren Vorteil: Wer diese Ochsentour übersteht, der hat seine Wahlkampf-Tauglichkeit unter Beweis gestellt. Doch dafür blieb keine Zeit, so entschied man es jedenfalls. Kamala Harris war nicht die einzige Alternativkandidatin, aber sie überzeugte schnell die Parteioberen.
Vorsprung innerhalb der Fehlertoleranz
Was durchaus überraschend war. Denn bei ihrer eigenen Kandidatur 2019 war sie früh ausgeschieden. Als Vizepräsidentin blieb sie blass. Ausgerechnet sie sollte nun die Kohlen aus dem Feuer holen? Und doch surfte sie schnell auf einer Euphoriewelle - auch dank der Erleichterung über Bidens Rückzug. Zuletzt war Trump in den Umfragen etwas stärker. Aber die Werte bewegen sich selten über die Fehlertoleranz hinaus. Fakt ist, dass Biden weit hinter Trump zurückgefallen war und Harris auf Augenhöhe liegt.
Der Kontrast zwischen Kandidat und Kandidatin könnte kaum größer sein. Ein alter weißer Mann, auf der einen Seite, der jedes Klischee toppt, das alten weißen Männern nachgesagt wird. Auf der anderen Seite eine zumindest jung wirkende, dunkelhäutige Tochter von Einwanderern. Am Sonntagabend wunderte sich die New Yorker Schriftstellerin Fran Lebowitz bei einem Auftritt in Berlin darüber, dass es noch immer unentschlossene Wähler gibt. "Denn die beiden sind sich ja so ähnlich, nicht?", fragte sie ironisch.
Die verbliebenen Wechselwähler werden dank nie dagewesener Finanzkraft mit Werbespots bombardiert, insbesondere in den sieben Swing States, von denen Pennsylvania besonders umkämpft ist. Allein in den vergangenen drei Monaten sammelte Harris eine Milliarde Dollar Spenden ein. Rekord, natürlich. Ein ganz neuer Spot wird von Julia Roberts gesprochen und richtet sich an Frauen im Trump-Land. Darin ruft die Schauspielerin sie dazu auf, Harris zu wählen und niemandem, besonders nicht ihrem Trump-wählenden Mann, etwas davon zu sagen. Ist das Verzweiflung? Oder oberschlau? Das Kalkül: Harris ist bei Frauen weitaus beliebter als Trump. Ihr wichtigstes Wahlkampfthema ist das Recht auf Abtreibung. Vielleicht kann Harris so auch mehr Republikanerinnen erreichen als gedacht. Trump setzt dagegen voll auf Wirtschaft und die Stimmung gegen Einwanderung und punktet eher bei Männern.
Das Wahlkampfgetöse wird jedenfalls bis Dienstag nicht nachlassen. Beide Seiten werden weiter aus allen Rohren feuern. In der Hoffnung, dass noch etwas durchdringt, dass doch noch jemand überzeugt wird. Was passiert, sollte Trump gewinnen, mag man sich noch gar nicht ausmalen. Was passiert, wenn er verliert, erst recht nicht. Beim letzten Mal stürmte ein aufgebrachter Mob das Kapitol.