Trotz scharfer Kritik in den eigenen Reihen bekommen die Ampel-Fraktionen im Bundestag Mehrheiten für das Sicherheitspaket zusammen. Die Union beklagt dagegen zahlreiche Defizite. CDU und CSU sind überzeugt: Anschläge wie in Solingen würden so nicht verhindert. Die Parteien stoppen Teile des Pakets im Bundesrat.
Viereinhalb Monate nach dem tödlichen Messerangriff in Mannheim und zwei Monate nach dem islamistischen Anschlag in Solingen hat die Regierungskoalition ihr großes Gesetzespaket zur inneren Sicherheit durch den Bundestag gebracht. Der Verabschiedung der Gesetzespakete ging noch einmal eine von großer Unversöhnlichkeit geprägte Debatte voraus. Neben der AfD ist es vor allem die Union, die die Maßnahmen als völlig ungenügend erachtet, um vergleichbare Attentate in Zukunft zu verhindern.
Die Gesetze wurden mit den Stimmen der Regierungsfraktionen von SPD, Grünen und FDP verabschiedet, auch wenn die Beschlüsse vielen Sozialdemokraten und Grünen wiederum zu weit gehen. Auf das Aufatmen über die eigene Mehrheit folgte flugs Ernüchterung: Jene Teile des Gesetzes zu Befugnissen der Sicherheitsbehörden scheiterten kurz nach der Bundestagsabstimmung doch noch an der Union: CDU und CSU stoppten die Gesetze zur Empörung von SPD und Grünen im Bundesrat.
Olaf Scholz habe nach den Messermorden von Mannheim und Solingen versprochen, alles zu unternehmen, damit sich so etwas nicht wiederhole, sagte die Vize-Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU, Andrea Lindholz, zum Auftakt der Bundestagsdebatte. "Der Bundeskanzler hat sein Versprechen nicht gehalten." Lindholz beklagte ein "massives Sicherheitsproblem mit der massenhaften illegalen Migration". CDU-Innenpolitiker Alexander Throm bezeichnete die neu eingeführten Maßnahmen als "weitgehend wirkungslos". Das Sicherheitspaket sei "der Gesetz gewordene Wortbruch des Bundeskanzlers".
Ampel sieht sich auf richtigem Weg
Bundesinnenministerin Nancy Faeser verteidigte die Beschlüsse erwartungsgemäß. "Für Radau und Bauchgefühl ist diese Lage viel zu ernst." Die beschlossenen Messerverbote und Personenkontrollbefugnisse brächten "mehr Sicherheit überall dort, wo sich viele Menschen aufhalten", sagte die SPD-Politikerin. In Solingen hatte ein ausreisepflichtiger Islamist aus Syrien drei Besucher eines Stadtfestes mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt.
Grünen-Politiker Konstantin von Notz verteidigte die Ampelfraktionen gegen Unionskritik, ohnehin ungenügende Vorschläge des Bundeskabinetts weiter abgeschwächt zu haben. Anders als die Forderungen von CDU und CSU seien die Maßnahmen auch mit dem Grundgesetz und EU-Recht vereinbar. Sozialdemokraten und Grüne verwiesen zudem auf zahlreiche Maßnahmen zur Verhinderung, dass sich Menschen dem gewaltbereiten Islamismus zuwenden. "Gerade Prävention ist harte Sicherheitspolitik", sagte Grünen-Politiker Marcel Emmerich.
FDP fordert Zugehen auf Union
Redner der FDP verteidigten die Ampelmaßnahmen und forderten zugleich, weitergehende Vorschläge von CDU und CSU zu prüfen. "Unser Land braucht zusätzliche politische Maßnahmen, um die irreguläre Migration weiter zu senken", sagte FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. Seine Fraktion teile Unionsforderungen nach mehr Befugnissen für die Bundespolizei bei Abschiebungen. "Das heutige Sicherheitspaket ist nicht genug." Kuhle appellierte an die Union, diesem als ersten Schritt in die richtige Richtung dennoch zuzustimmen. "Wenn konkrete Maßnahmen auf dem Tisch liegen, dann muss man auch springen."
Der Streit zwischen Ampelfraktionen und Union hatte sich noch einmal verschärft, weil die Gesetzesvorschläge von CDU und CSU zur Begrenzung irregulärer Migration nicht auf die Tagesordnung kamen, um zusammen mit den Ampelvorschlägen abgestimmt zu werden. Die Ampelmehrheit im Innenausschuss hatte dafür gestimmt, die Unionspapiere weiter im Ausschuss zu beraten. Unionsfraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei nannte dies einen "einmaligen, präzedenzlosen Fall". Die Ampel habe befürchtet, dass etwa FDP-Abgeordnete den Unionsvorschlägen zustimmen könnten. Diesen Vorwurf wiesen Redner der Ampelfraktionen zurück.
Die Union legte stattdessen zwei Entschließungsanträge vor, die die Bundesregierung zu einer Grundüberholung des Waffenrechts sowie zur Einführung umfassender Zurückweisungen bei Grenzkontrollen auffordern. In der von der Union geforderten namentlichen Abstimmung lehnten von 652 abgegebenen Stimmen 407 die Zurückweisungen an den Grenzen ab, 237 waren dafür. Das sind 41 mehr Ja-Stimmen, als die Union insgesamt Mandate hat. Ob darunter auch Ja-Stimmen aus den Regierungsfraktionen waren, lässt sich nicht ermitteln. Allerdings hatte FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki angekündigt, für umfassende Zurückweisungen stimmen zu wollen. Auch die AfD mit ihren insgesamt 76 Abgeordneten forderte "sofortige Schließungen der Grenze", wie ihr Redner Christian Wirth in der Debatte sagte.
Die Beschlüsse im Überblick
Zu den maßgeblichen Beschlüssen des Sicherheitsgesetzes gehört unter anderem Folgendes:
- Das Waffenrecht wird verschärft. Messer dürfen nur noch mit einer Klingenlänge von maximal sechs Zentimetern in der Öffentlichkeit geführt werden.
- Bei Großveranstaltungen gelten Verbote für das Führen jeglicher Messer. Die Bundesländer sollen zudem nach eigenem Ermessen weitere Messerverbotszonen einführen können. Die Verbote ermöglichen der Polizei anlasslose Kontrollen von Personen, ob diese Messer mit sich führen.
- Zur Abwehr besonders schwerer Straftaten sollte das Bundeskriminalamt künftig den biometrischen Datenabgleich durchführen können. Von Künstlicher Intelligenz unterstützte Programme sollen Bilddaten mit Bildern aus öffentlich zugänglichen Datenbanken abgleichen können, um Personen zu identifizieren.
- Ausreisepflichtigen Migranten, die ihr Asylverfahren in einem anderen EU-Staat gestellt haben, der diese auch zurücknehmen würde, können Sozialleistungen gestrichen werden.
- Wer Schutzstatus in Deutschland genießt, aber Urlaub im Herkunftsland macht, kann dieses Bleiberecht verlieren.
- Die Finanzierungsquellen islamistischer Organisationen sollen genauso wie islamistische Propaganda im Internet stärker bekämpft werden.
Der biometrische Datenabgleich wurde nun vorerst durch die Union im Bundesrat gestoppt. Die Maßnahmen müssen deshalb im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat beraten werden. Die Union beklagt zudem, dass das Sicherheitspaket keine Vorratsdatenspeicherung vorsieht. Stattdessen soll nun ein sogenanntes "Quick Freeze"-Verfahren kommen. Dieses würde Telekommunikationsanbieter verpflichten, alle verfügbaren Daten einer verdächtigen Person zu speichern. Dieser Vorgang soll die vom Bundesverfassungsgericht abgelehnte Vorratsdatenspeicherung etwa von IP-Adressen, einer Art Fingerabdruck internetfähiger Geräte, ablösen. Noch aber ist der entsprechende Gesetzentwurf in der Ressortabstimmung.
Frust links und rechts der Ampel
Sowohl in den Fraktionen als auch in der Parteibasis von SPD und Grünen regte sich scharfe Kritik an den Maßnahmen, etwa der mögliche Entzug von Sozialleistungen für Asylbewerber, für die Deutschland nach dem Dublin-Verfahren nicht zuständig ist. Diese Stimmen warfen, genauso wie Abgeordnete der Linken, der Ampel vor, das Problem des islamistischen Terrors mit dem Thema Migration zu vermengen. Mehrere Abgeordnete beider Parteien verweigerten deshalb Teilen des Sicherheitspakets ihre Zustimmung.
Die Abstimmung war kurzfristig in mehrere Teile untergliedert worden, nachdem sich in beiden Fraktionen Protest geregt hatte. Bundeskanzler Olaf Scholz soll seiner Fraktion gar mit der Vertrauensfrage im Bundestag gedroht haben, sollte keine Ampel-Mehrheit zustandekommen.
CDU-Innenpolitikerin Lindholz machte in ihrer Rede deutlich, wo die Regierung mit dem Sicherheitspaket überall hinter den Unionsforderungen zurückbleibe: "Keine Aussetzung des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten, keine Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsländer, kein Ausreisearrest für ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder", prangerte sie an. Und: "Umfassende Zurückweisungen an den deutschen Grenzen lehnen Sie ja ohnehin nachhaltig ab."
Unverständnis erntete bei der Union auch das Waffenverbotsgesetz, weil ein Messer im Rucksack bei Großveranstaltungen zulässig bleibe. Dort sei es anders als in der Jacken- und Hosentasche nicht griffbereit, so das Gesetz. Das erschien den Rednern der Union weltfremd. Zugleich treffe das pauschale Verbot längerer Messer zahlreiche Berufsgruppen und Hobbysportler wie Jäger.
"Sie haben hier heute nichts vorgelegt"
Die Union forderte zudem, im Kampf gegen schwere Straftaten wie Terrorismus und sexualisierte Gewaltdarstellungen von Kindern die Vorratsdatenspeicherung zu ermöglichen. Das sei Grundgesetz-konform machbar. "Für das Bundeskriminalamt bietet das 'Quick Freeze'-Verfahren keinen Nutzen", klagte CDU-Innenpolitiker Throm.
Die Union wertet zudem die enge Anwendungsbegrenzung des biometrischen Datenabgleichs als praxisferne Beschränkung des Bundeskriminalamts. So soll das Instrument nur bei schwersten Straftaten zur Anwendung kommen, vom Behördenleiter angeordnet, richterlich überprüft und im Nachgang wissenschaftlich evaluiert werden. Kuhle und von Notz lobten dagegen diesen "Grundrecht-schonenden" Einstieg in technologisch neuartige Ermittlungsmethoden.
CDU-Politiker Throm bemängelte ferner, der nun eingeführte Entzug von Sozialleistungen werde nur bei wenigen Tausend ausreisepflichtigen Migranten möglich sein. Bundesinnenministerin Faeser widersprach durch heftiges Kopfschütteln, doch Throm blieb dabei: "Sie haben hier heute nichts vorgelegt."