Staatsminister Tobias Lindner hat die neuen Machthaber in Syrien persönlich erlebt. Ein Gespräch über Islamisten im Anzug und Deutschlands zukünftige Rolle in Damaskus.
Herr Lindner, wie legt man eigentlich Gesprächskanäle zu einer islamistischen Miliz wie Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS)?
Wir standen nach der Schließung der deutschen Botschaft 2012 über einen Arbeitsstab weiter in Verbindung mit Akteuren der Region. Wir wussten, wen wir wie erreichen konnten. Auch über Dritte. Das ist immer eine Gratwanderung: Wenn Sie offizielle Kanäle etablieren, werten Sie Personen auf. Gehen Sie aber davon aus, dass man über dieses Netzwerk auch in der Lage war, mit Ahmed al-Sharaa Kontakt aufzunehmen ...
… dem HTS-Chef und Syriens neuem Machthaber. Ein Mann, der früher für Al-Qaida kämpfte und heute im Anzug Staatsgäste empfängt. Wie muss man sich den Kontakt zu ihm vorstellen? Gibt es einen digitalen Jour Fixe zwischen Auswärtigem Amt und HTS?
Das Auswärtige Amt hat inzwischen eine regelmäßige, aber noch nicht vollständige Präsenz in Damaskus und dadurch auch Gesprächskanäle in die HTS hinein. Einen Monat nach dem Sturz von Assad bilden sich dort inzwischen staatliche Strukturen. Als wir Mitte Dezember erstmals ein Team in Damaskus hatten, war noch klar, dass man mit al-Sharaa selbst sprechen kann. Nun hat er Berater um sich, die ihm sagen: Du bist das Staatsoberhaupt. Rede nur mit Leuten auf deiner Ebene. Um ihn gibt es inzwischen Protokollchefs und Büroleiter. Dadurch ist eine Zusammenarbeit möglich, wie wir sie auch mit anderen Ländern kennen.
Vor wenigen Tagen haben Sie al-Sharaa bei einem Besuch mit Außenministerin Annalena Baerbock dann erstmals persönlich erlebt. Wie war Ihr Eindruck?
Wir haben über zwei Stunden lang gesprochen. Er ist ein Mensch im Häutungsprozess – vom Milizenführer zum Politiker. Die spannende Frage ist nun: Wie weit geht diese Wandlung? Nicht nur in dem, was er sagt. Sondern auch in dem, was er tut. Und wie sieht die Unterstützung für ihn aus? Wenn er sagt, dass eine Übergangsregierung möglichst alle Syrerinnen und Syrer berücksichtigen muss – also Männer, Frauen, Drusen, Kurden, Alawiten und so weiter –, dann impliziert das auch, dass er es letztlich nicht all seinen Anhängern recht machen können wird. Das ist ein Spannungsfeld.
Ziehen die Rebellen denn an einem Strang? In seinem Marsch auf Damaskus wusste al-Sharaa noch eine breite Allianz aus ganz unterschiedlichen Gruppen hinter sich.
Jein. Wir sind jetzt in einer neuen Phase der syrischen Geschichte angekommen. Assad als gemeinsames Feindbild hat die Milizen geeint. Nun, da er weg ist, geht es darum, aus diesen Milizen gemeinsame syrische Sicherheitskräfte zu formen.
Kaufen Sie al-Sharaa seinen Wandel vom Islamisten zum Versöhner Syriens ab?
Wir erkennen an, was er öffentlich und auch uns gegenüber gesagt hat. Aber am Ende werden wir ihn an seinen Handlungen messen. Er hat sich zum inklusiven Übergangsprozess bekannt, zur Rolle von Frauen in der syrischen Gesellschaft. Der Lackmustest wird die Konferenz des nationalen Dialogs sein, die er einberufen will. Dem Vorbereitungskomitee sollen sechs oder sieben Personen angehören, darunter zwei Frauen. Wenn das stimmt, ist das eine Entwicklung in die richtige Richtung.
Also keine Taliban light, wie Viele befürchten?
Ich bin mit Vergleichen immer vorsichtig. Es liegt an der HTS, den Beweis anzutreten, dass sie sich von einer islamistischen Miliz zu einem politischen Faktor wandeln wollen. Natürlich haben wir von den Berichten über Menschenrechtsverletzungen in HTS-kontrollierten Gebieten in der Vergangenheit gehört. Genauso haben wir aber zur Kenntnis genommen, dass die HTS dort in Idlib versucht hat, staatliche Strukturen zu etablieren und eine gewisse Grundversorgung mit öffentlichen Gütern sicherzustellen.
Die neue Führung sagt, Wahlen könnten erst in vier Jahren stattfinden. Ist das nicht zu spät?
Natürlich muss es so zügig wie möglich gehen. Aber auch in Deutschland hat es von 1945 bis 1949 gedauert, bis wir zu bundesweiten Wahlen und einer Verfassung kamen. Andererseits gab es in den vier Jahren dazwischen Wahlen auf Länderebene. Es braucht einen schrittweisen Prozess mit überprüfbaren Zwischenschritten.
Von Ihrer Reise nach Syrien ist vor allem ein Bild in Erinnerung geblieben: al-Sharaa, der der deutschen Außenministerin den Handschlag verweigert.
Uns war im Vorfeld vollkommen bewusst, dass es nicht zu einem Handschlag kommen wird. Entsprechend haben wir uns auch verhalten und uns vorab mit den Franzosen abgesprochen (Baerbock traf al-Sharaa gemeinsam mit dem französischen Außenminister, Anm d. Red.). Übrigens: Zum Ende des Gesprächs gab es dann von ihm den Versuch, ihr die Hand zu reichen. Nur hat es die Ministerin aus dem Augenwinkel nicht mehr mitbekommen. Wenige Tage später in Riad kam es dann zu einem Handschlag mit dem Außenminister – vor Kameras. Wenn Sie also unbedingt bei solch einem Bild bleiben wollen: Es zeigt, wie schnell sich die Dinge ändern können.
Die deutsche Botschaft in Damaskus stand fast 13 Jahre lang leer. Wann wird sie wieder öffnen können?
Es gibt viele praktische Dinge, die es erstmal zu lösen gilt. Wir müssen prüfen, ob das Gebäude verwanzt wurde und heutigen Sicherheitsanforderungen noch genügt. Da stehen Monitore, Tastaturen und Telefone auf verstaubten Tischen – alles ist auf dem Stand von 2012. Eine wichtige Frage ist auch die Stromversorgung. Strom gibt es in Damaskus etwa zwei Stunden am Tag. Als wir uns im Botschaftsgebäude umsahen, gingen wir mit Handytaschenlampen durch die Räume. Irgendwann wird der Moment kommen, an dem wir in Damaskus wieder die Bundesdienstflagge hissen. Aber ein genaues Datum kann ich Ihnen nicht nennen.
Israel fliegt Luftangriffe auf die Golanhöhen, die Türkei bekämpft Kurden im Nordosten Syriens, und auch die einstigen Assad-Verbündeten Iran und Russland werden ihre Interessen nicht einfach so aufgeben wollen. Wie verhindert man, dass das Land erneut zum Spielball fremder Mächte wird?
Eine Garantie können wir als Bundesregierung niemandem geben. Wir praktizieren eine intensive Reise- und Telefondiplomatie. Die Bundesministerin traf sich zuletzt mehrmals mit dem türkischen Außenminister zu einem intensiven Austausch.
Die Türkei wirkt derzeit mehr wie ein destabilisierender Faktor als ein verlässlicher Partner.
Ich kann einige Sicherheitsinteressen der Türkei teilweise nachvollziehen. Natürlich darf die kurdische Terrororganisation PKK Syrien nicht mehr als Operationsgebiet für Angriffe auf türkisches Gebiet nutzen. Mein Eindruck ist, dass die Türkei es präferiert, im internationalen Konzert zu agieren – gemeinsam mit den arabischen Nachbarn, sowie den EU- und Nato-Partnern. Genauso beunruhigt uns aber die türkische Militärpräsenz an der syrischen Grenze im Raum Kobane. Wir haben sehr deutlich gemacht, dass solche Dinge natürlich auch immer Auswirkungen auf das bilaterale Verhältnis haben können.
Es waren die Kurden, die gemeinsam mit den USA den Islamischen Staat aus Syrien vertrieben haben. Nun stehen sie unter Druck. Zusätzlich könnte Präsident Donald Trump die letzten 900 amerikanischen Soldaten abziehen. Werden wir ein Wiedererstarken des IS in Syrien erleben?
Die Gefahr besteht. Es darf jetzt kein Sicherheitsvakuum geben. Die Gefängnisse, in denen viele IS-Kämpfer sitzen, müssen kontrolliert werden. Das ist allen Akteuren sehr bewusst, auch den Vereinigten Staaten, dem Irak, der die Grenze in diesem Gebiet nun verstärkt kontrolliert, und Ahmed al-Sharaa.
Durch einen langfristigen Vertrag hält Assads Verbündeter Russland noch zwei strategisch wichtige Marinebasen an der syrischen Mittelmeerküste. Was soll aus diesen Stützpunkten werden?
Es ist schon zynisch, dass ausgerechnet Russland sich auf irgendwelche Verträge beziehen will. Ich habe Putin in den letzten Jahren nicht unbedingt als einen Verfechter regelbasierter internationaler Ordnung erlebt. Er hat mit seiner Unterstützung für Assad auch Krieg gegen das syrische Volk geführt. Seine Stützpunkte dienen als Operationsbasis für Streitkräfte im Mittelmeer und tangieren damit unmittelbar unsere eigenen Sicherheitsinteressen. Wer mit Deutschland und Europa engere, belastbare Beziehungen haben will, der muss auch diesen Interessen Rechnung tragen.
Klingt nach klaren Bedingungen für die HTS.
Am Ende müssen die Menschen dort natürlich selbst entscheiden, wie genau die Zukunft ihres Landes aussehen kann. Aber wir haben politisch eine Menge in Syrien investiert. Wir bieten nach wie vor hunderttausenden Menschen Zuflucht und Schutz in unserem Land. Wir waren in den letzten Jahren der größte bilaterale Geber an humanitärer Hilfe für Syrien. Gerade gibt es die Chance, dass sich Syrien zum Besseren wendet. Die wollen wir nutzen, indem wir am Wiederaufbau mitwirken. Gleichzeitig ist das ein Druckhebel, durch den wir auf die Führung in Damaskus einwirken und klarmachen: Wir können uns nur engagieren, wenn gewisse Voraussetzungen vor Ort gegeben sind, also auch: Achtung der Menschenrechte, Frauenrechte, Minderheitenrechte, gute Regierungsführung.
Mich überrascht die Debatte um die Rückkehr der Flüchtlinge.
Einem Wiederaufbau stehen internationale Sanktionen im Weg, die noch zu Assad-Zeiten verhängt wurden und nun, nach seinem Fall, doch schnell aufgehoben werden könnten, oder?
Auch das ist ein schrittweiser Prozess. Jede Sanktion hat einen Grund, weshalb sie erlassen wurde. Manche etwa richten sich direkt gegen die Helfershelfer von Assad. Die sollen natürlich bleiben. Es werden nicht von heute auf morgen alle Sanktionen enden. Aber wir fahren einen smarten Ansatz und werben als Bundesregierung innerhalb der EU dafür, möglichst zeitnah erste Sanktionserleichterungen umzusetzen, damit Wiederaufbaumaßnahmen möglich sind.
Sie haben mit Baerbock das berüchtigte Foltergefängnis Saidnaja besucht. Zehntausende Syrer dienten in Assads Staatsverwaltung oder dem Militär. Jetzt gibt es vereinzelt Berichte von Lynchjustiz. Wie soll dieses Land je zusammenwachsen können?
Die HTS kann nicht einfach mit demselben Personal weitermachen, das schon für Assad gearbeitet hat. Gleichzeitig wollen wir eine Situation wie beispielsweise 2003 im Irak – als von heute auf morgen die regierende Baath-Partei samt Armee aufgelöst wurde und quasi alle staatlichen Strukturen wegbrachen – vermeiden.
Iran Russland Abkommen Analyse 13:26
Also eine Amnestie?
Ob man letztlich nur die großen Fische verfolgt und es gegebenenfalls zu einer Amnestie kommt, ist die Entscheidung der Syrerinnen und Syrer. Aber Gerechtigkeit und Versöhnung wird nicht möglich sein, ohne dass es zu einer Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen kommt. Die Zeit drängt. Es ist jetzt wichtig, Beweise zu sichern, auch für uns als Bundesregierung. Hier haben wir schon etwas Erfahrung, denn auch in Deutschland gab es ja nach dem Weltrechtsprinzip schon Gerichtsprozesse gegen Assads Schergen.
Ist Syrien bereits sicher genug, damit Flüchtlinge dorthin zurückkehren können?
Mich überrascht die Debatte. Die Frage, ob Menschen zurückkehren, kann nur das Ergebnis einer Syrien-Politik sein, aber nicht der Anfang davon. Wir haben selbst in Damaskus – der so lange von Assad und seinen Verbündeten kontrollierten Hauptstadt – Randbezirke erlebt, die von Kriegszerstörung gezeichnet sind. In Teilen gab es nur zwei Stunden Strom am Tag. Die Sicherheitslage ist weiter volatil. Es muss jetzt darum gehen, die Situation dort zu verbessern, damit die Menschen in Syrien in Freiheit und Sicherheit leben und ihre Grundbedürfnisse decken können. Wenn das gegeben ist, dann beginnt die Diskussion über die Rückkehr.