4 months ago

Sexualdelikte zum Nachteil von Minderjährigen: Was die gestiegenen Fallzahlen bedeuten



Liest man die heutigen Schlagzeilen über den Anstieg von Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen, kann einem angst und bange werden. Doch was sagen die Zahlen wirklich aus? Wir geben Kontext zu einer Debatte, bei der mal wieder mehr Überwachung gefordert wird.

Eine Lupe auf einer Reihe Zahlen.Bei Zahlen aus polizeilichen Kriminalstatistiken ist Kontext angebracht. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Pond5 Images

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat heute das Bundeslagebild „Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen“ (PDF) vorgestellt. Aus diesem geht hervor, dass die Zahl erfasster Straftaten bei sexualisierter Gewalt an Kindern sowie die Verbreitung so genannter kinderpornografischer Inhalte gestiegen ist. Sowohl das Bundeskriminalamt sowie die Innenministerin Nancy Faeser nutzten die Vorstellung des Berichts ein weiteres Mal um eine Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen zu fordern.

Tatsächlich ist die Anzahl der polizeilich erfassten Fälle im Deliktfeld über mehrere Jahre hinweg nun ein weiteres Mal angestiegen. So stieg der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im letzten Jahr um etwa fünf Prozent. Die Zahl der Fälle von Besitz oder Verbreitung von kinderpornografischen Inhalten stieg um etwa sieben Prozent, bei jugendpornografischen Inhalten gar um mehr als 30 Prozent.

Aufdeckung des Dunkelfeldes

Der Anstieg der erfassten Straftaten muss nicht heißen, dass diese Delikte insgesamt mehr werden, sondern es ist wahrscheinlicher, dass immer mehr Fälle aufgeklärt werden und der Fahndungs- und Ermittlungsdruck auf die Täter:innen steigt. Das BKA sagt selbst im Lagebild:

Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Anzahl aufgedeckter Fälle stark mit polizeilicher Kontrolltätigkeit und dem Anzeigeverhalten korreliert. Insofern dürfte es auch aufgrund intensivierter polizeilicher Tätigkeiten im Deliktsbereich in den letzten Jahren zu einer Aufhellung des Dunkelfelds gekommen sein.

Das Bundeskriminalamt war in den letzten Jahren dafür kritisiert worden, dass es in Pressemitteilungen gestiegene Fallzahlen kommunizierte, ohne auf diesen Zusammenhang hinzuweisen. Bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik im April hatte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz diese Zahlen erneut kontextlos präsentiert, um für die Vorratsdatenspeicherung zu werben.

Sehr viele Minderjährige als Tatverdächtige

Hinzu kommt, dass bei kinderpornografischen Inhalten knapp 40 Prozent der Tatverdächtigen selbst Minderjährige sind, bei jugendpornografischen Inhalten ist es sogar die Hälfte. Es dürfte sich vornehmlich um selbst erstelltes Bildmaterial handeln, das sie dann wiederum häufig an andere Minderjährige schicken.

Diese sexuelle Praxis von Minderjährigen wird Sexting genannt, dabei schicken sich Menschen einvernehmlich sexuelle Bilder. 14-Jährige, die etwa einvernehmliches Sexting mit Gleichaltrigen betreiben, machen sich in Deutschland derzeit strafbar. Fachleute kritisieren das seit langem als Fehlentwicklung. „Minderjährige im Rahmen ihrer gleichberechtigten sexuellen Entwicklung untereinander sollten nicht vom Strafrecht erfasst werden“, fordert etwa der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger.

Das Phänomen nennt das BKA „Selbstfilmer“. Hierbei nehmen Minderjährige pornografische Aufnahmen von sich auf, was legal ist – und verbreiten diese in sozialen Medien und über Messenger, was illegal ist. Das BKA stellt dazu fest: „Der Trend der „Selbstfilmer“ dürfte für den sprunghaften Anstieg der Fallzahlen in den letzten Jahren mitursächlich sein.“

Hohe Zahl an Fehlalarmen

Viele der Hinweise, die zu einer Strafverfolgung führen, erhält das Bundeskriminalamt über die US-Organisation NCMEC, welche gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder arbeitet. Unter anderem prüft NCMEC auch Hinweise von Internetanbietern und Serviceprovidern auf kinder- und jugendpornografische Inhalte – und leitet diese an die jeweils zuständigen polizeilichen Zentralstellen der Staaten weiter, in denen die Straftaten mutmaßlich stattgefunden haben sollen.

Aus dem Lagebild geht hervor, dass mehr als die Hälfte der etwa 180.000 Hinweise, die das Bundeskriminalamt durch die US-Organisation NCMEC erhält, nicht strafrechtlich relevant sind. Diese Zahlen waren schon im Juni bekannt geworden.

Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer kritisiert diese Praxis. Er macht dafür eine „Rekord-Unzuverlässigkeit“ von Plattformen wie Meta verantwortlich, die angefangen hätten, Textchats nach Schlüsselwörtern zu scannen. „Die Zerstörung unseres Briefgeheimnisses nimmt immer dramatischere Ausmaße an“, kritisiert der Europaabgeordenete der Piratenpartei.

Mehr Medienerziehung und Prävention nötig

Trotz der vielen Fehlalarme sind für das BKA die Hinweise des NCMEC außerordentlich wichtig: „Die starke Zunahme polizeilich abgeschlossener Fälle von Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz kinder- sowie jugendpornografischer Inhalte dürfte im Wesentlichen auf das in den letzten Jahren stetig gestiegene Hinweisaufkommen durch das NCMEC zurückzuführen sein“, heißt es im Lagebericht.

In seiner Bewertung der Lage macht das BKA die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung dafür verantwortlich, dass es nicht noch mehr Fälle und Tatorte aufklären könne. Doch auch für die Polizist:innen in Wiesbaden ist klar, dass Strafverfolgung nur ein Element eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes beziehungsweise einer ganzheitlichen Bekämpfungsstrategie sein kann. „Eine kompetente Medienerziehung und fachkundige Begleitung von Kindern sowie adressatengerechte Präventionsmaßnahmen, die aktuelle Entwicklungen und Täterstrategien berücksichtigen, bilden neben der Einbeziehung verantwortlicher Internet-Dienstanbieter weitere wichtige Bausteine“, resümiert das BKA.


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