4 months ago

Selenskyjs Chefdiplomat tritt ab: Kuleba muss gehen - aber nicht so ganz



Inmitten einer besonders kritischen Phase des Krieges gegen Russland entlässt Präsident Selenskyj Außenminister Kuleba und andere Kabinettsmitglieder. Die Personalrochade hat Methode und das Aus für den beliebten Kuleba seine Gründe. Die westlichen Partner könnten Kuleba bald in Brüssel begegnen.

Für Außenstehende mag die große Rotation in der ukrainischen Regierung sowie in der mächtigen Präsidialverwaltung von Wolodymyr Selenskyj überraschend wirken. Zumal die tödlichen russischen Luftangriffe im ostukrainischen Poltawa am Dienstag sowie in der westlichen Metropole Lwiw am Mittwoch auch in der Ukraine die Schlagzeilen bestimmten. Doch aus dem Nichts kommt die Personalrochade keinesfalls: Dass Selenskyj einen größeren Umbau in der Regierung plant, war längst nicht nur im politischen Kiew bestens bekannt. Der ukrainische Präsident hat diese Veränderungen in den vorigen Monaten auch mehrfach öffentlich angedeutet.

Im Sommer wurde sogar reichlich darüber spekuliert, dass auch Denys Schmyhal, seit mehr als vier Jahren im Amt des ukrainischen Ministerpräsidenten und damit Rekordhalter in dieser Position, ersetzt wird. Für die kommenden Monate ist dies weiterhin nicht ausgeschlossen. Doch vorerst dürfte sich der eher unauffälige 48-jährige Technokrat in seinem Amt sicher fühlen. Gleiches gilt nicht für den bisherigen Justizminister Denys Maljuska, der zusammen mit weiteren Ministern am Mittwoch schon vom ukrainischen Parlament entlassen wurde.

Selenskyj macht Ministerien winterfest

Anders als Maljuska werden nicht alle Minister, die formell von den Abgeordneten freigestellt wurden, aus dem Kiewer Machtsystem ausscheiden. Oleksandr Kamyschin, bisher Minister für strategische Industrie, wird mit großer Wahrscheinlichkeit Selenskyjs Berater für Wirtschafts- und Energiefragen. Maljuska soll durch die vorerst entlassene Vizepremierministerin Olha Stefanyschina ersetzt werden. Stefanyschina soll neben ihrer vermutlichen Rolle als Justizministerin offenbar weiterhin Fragen der europäischen Integration koordinieren. Insgesamt dürfte es mehr als ein Dutzend Veränderungen in der Regierung sowie im Präsidentenbüro geben, sollten sie alle bewilligt werden.

Doch warum fallen die Personalentscheidungen ausgerechnet jetzt? Einerseits hat dies damit zu tun, dass eine Menge Ministerien seit Monaten keinen festen Chef oder Chefin haben. In Erwartung eines schwierigen Winters mit massiven Stromausfällen wegen der russischen Luftangriffe sollte der Umbau des Personaltableaus noch im zu Ende gehenden Sommer über die Bühne gehen. Den Neuen bleiben nun eineinhalb Monate, um sich einzuspielen, bevor es womöglich kritisch wird und schnelle, entschiedene Lösungen von unterschiedlichen Ressorts gebraucht werden.

Frischer Wind gegen emotionale Ermüdung

Außerdem ist Präsident Selenskyj bekannt dafür, dass er ab und an solche Veränderungen vornimmt und auch Personalien zwischen dem Präsidentenbüro und der Regierung austauscht. Das soll eine gewisse "emotionale Müdigkeit" verhindern und frischen Wind reinbringen. Letzteres dürfte durchaus gelingen, auch wenn grundlegenden Veränderungen in der allgemeinen Ausrichtung des ukrainischen Machtapparats kaum zu erwarten sind. Schließlich sind es Selenskyj und sein mächtiger Stabschef Andrij Jermak, die die ukrainische Politik strategisch festlegen. Daneben gibt es kaum prägende Figuren.

Über die Entlassung des international bekannten und im Inland beliebten Außenministers Dmytro Kuleba, der in der Nacht auf Mittwoch seinen Rücktritt einreichte, hat das Parlament, der Werchowna Rada, noch nicht abgestimmt. Doch dass es dazu kommen wird, steht außer Frage.

Kulebas Ausscheiden wird auch im Ausland mit großem Interesse verfolgt, wird er da doch als eine der wichtigsten Stimmen der Ukraine wahrgenommen. In der Kiewer Politikelite wurde die mögliche Entlassung von Kuleba, der unter Selenskyj zunächst Vizepremier für europäische Integration wurde und seit März 2020 Außenminister ist, spätestens seit März diskutiert. Kuleba galt sogar zwischenzeitlich als Top-Kandidat für den frei gewordenen Posten des Botschafters in London. Die Stelle bekam jedoch der im Februar entlassene, beliebte Armee-Befehlshaber Walerij Saluschnyj.

Versäumnisse im Außenministerium

Der 43-jährige Kuleba, jüngster Außenminister der ukrainischen Geschichte, soll Gerüchten zufolge in anderer Funktion nach Brüssel ziehen. Die Mission: die ukrainischen Beziehungen zur EU sowie zur NATO auszubauen. Aufgrund der Alternativlosigkeit der transatlantischen Ausrichtung der Ukraine gehört die Pflege dieser Verbindung für die Kiewer Diplomatie zu den wichtigsten Aufgaben - und Kuleba wäre auch die Top-Besetzung dafür. Er spricht fließend Englisch, gilt als progressiv und kaum jemand scheint etwas Schlechtes von ihm zu denken.


Doch obwohl er eindeutig zu den besseren Außenministern der ukrainischen Geschichte gehört, der auch in der denkbar schwerstmöglichen Zeit sein Amt räumen musste, erfolgt Kulebas Entlassung nicht grundlos. Dass der diplomatische Dienst der Ukraine insgesamt eher dünn besetzt ist, ist im politischen Kiew kein Geheimnis. Sogar für wichtige Länder dauert es oft recht lange, bis passende Botschafter gefunden werden, die selbst nicht zwingend einen diplomatischen, sondern politischen Hintergrund haben. Auch mit Blick auf die Arbeit der Konsulate gibt es reichlich Kritik. Niemand hätte von Kuleba erwartet, dass gerade in der Zeit nach dem russischen Großüberfall vor zweieinhalb Jahren plötzlich alles besser würde. Dass aber gar keine Besserung in Sicht ist, ist ein wunder Punkt in Kulebas Amtszeit.

Name des Nachfolgers kursiert

Ansonsten ist es für Selenskyj typisch, von seinem Team ein gewisses Maß an Kreativität und frischen Ideen zu erwarten. Zumal Außenpolitik neben der Landesverteidigung verfassungstechnisch zu den Hauptbefugnissen des ukrainischen Präsidenten gehört. Hier soll sich Kuleba in den vergangenen Jahren eher passiv gezeigt haben, während viele Ideen Selenskyjs wie zum Beispiel seine Friedensformel sowie der Friedensgipfel in der Schweiz im Sommer vor allem durch das Präsidentenbüro umgesetzt wurden. Auch sonst ist davon auszugehen, dass die grundsätzliche Außenpolitik des ukrainischen Staates vor allem durch die Präsidentenkanzlei und nicht durch das Außenministerium bestimmt wurde.

Daher kommt auch der Name des potenziellen Nachfolgers von Dmytro Kuleba alles andere als überraschend: Der 49-jährige ukrainische Karrierediplomat Andrij Sybiha war seit Mitte 2021 stellvertretender Chef des Präsidentenbüros und beschäftigte sich vor allem mit internationalen Fragen. Seit April 2024 wirkt Sybiha als erster stellvertretender Außenminister. Schon im Frühjahr wurde in Kiew daher heftig darüber spekuliert, dass es für ihn bald eine Stufe höher gehen wird, was vermutlich diese Woche auch passiert. Eine Veränderung der ukrainischen außenpolitischen Linie ist daher kaum zu erwarten.

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