4 months ago

Pipeline-Anschlag: Nord Stream: Diese politischen Fallstricke muss der Kanzler fürchten



Ein Verdächtiger für den Anschlag auf die Pipelines hat sich in die Ukraine abgesetzt. Die Ermittlungen bergen für Berlin Konfliktpotenzial – nicht nur mit anderen Regierungen.

Der Bundeskanzler zeigte sich einigermaßen entschlossen: "Wir werden herausfinden, wer es war, soweit wir das können", versprach Olaf Scholz im August 2023. "Und wir werden nicht, weil uns das Ergebnis nicht gefällt, das nicht zur Anklage bringen." Die Rede war von den Anschlägen auf die Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee im September 2022. "Wir wollen das unbedingt aufklären", so Scholz. "Da kann keiner auf Rücksicht hoffen."

Nun, ein Jahr nach der Kanzler-Ansage, wurde bekannt, dass der Generalbundesanwalt einen ersten Haftbefehl beim Bundesgerichtshof erwirkt hat. Er richtet sich gegen einen ukrainischen Staatsbürger, einen professionellen Taucher, der in 80 Meter Tiefe den Sprengstoff an die Röhren auf dem Meeresgrund geheftet haben soll. Die Bundesregierung wertete dies prompt als Zeichen, dass Scholz Wort gehalten habe. Die Ermittlungen hätten "höchste Priorität", verlautbarte Vize-Regierungssprecher Wolfgang Büchner. Zur Sache konkret wolle man sich zwar nicht äußern, aber man könne sagen, "dass die Ermittlungen nach Recht und Gesetz und ohne Ansehen der Personen geführt werden".

Delikat sind sie trotzdem. Denn sie bergen Konfliktpotenzial gleich an mehreren Stellen – vor allem im Verhältnis zur Ukraine. Aber auch für die Beziehung von Berlin und Warschau. Und nicht zuletzt im Verhältnis zwischen Regierung und Justiz in Deutschland.

Nord Stream: Verdunkelung wäre Skandal

Deshalb ist es naheliegend, dass die Opposition die Ermittlungen stets unter den Verdacht stellt, die Bundesregierung setze doch das eine oder andere Stoppschild, um politische Verwicklungen zu vermeiden. "Es wäre ein Skandal, wenn Staatsraison dazu führt, dass Spuren in die Ukraine ignoriert und Ermittlungsergebnisse zurückgehalten wurden", sagte Klaus Ernst, Bundestagsabgeordneter des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), dem "Tagesspiegel".

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Präsident Wolodymyr Selenskyi bestreitet zwar, dass seine Regierung etwas mit dem Anschlag zu tun habe. Die Tatsache, dass der Hauptverdächtige aus der Ukraine kommt und sich auch dorthin abgesetzt haben soll, lenkt die Aufmerksamkeit aber wieder auf Kiew. In Berlin versucht man derweil, Vermutungen über eine Einflussnahme im Keim zu ersticken. 

Die Ermittlungen einerseits und die deutsche Unterstützung für die Ukraine andererseits hätten faktisch nichts miteinander zu tun. "Völlig unabhängig davon, zu welchem Ergebnis solche Ermittlungen führen", so Vize-Regierungssprecher Büchner, "ändert sich natürlich nichts an der Tatsache, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt".

Richtig eskalieren könnte die Lage vor allem dann, wenn sich der Verdacht gegen den ukrainischen Taucher erhärten und die Frage einer Auslieferung anstehen sollte. Ein solches Verfahren liefe zwar weiter unter der Federführung der Bundesanwaltschaft, aber es wäre nicht das erste Mal, dass eine solche Frage auch Gegenstand politischer Gespräche würde. Würde der Kanzler dann gegenüber Selenskyi auch versuchen, Druck auszuüben, um eine Überstellung zu erreichen? Würde Scholz womöglich sogar damit drohen, die Unterstützung einzuschränken? Schwer vorstellbar.

Polen gehörte immer zu schärfsten Kritikern

Auch für das deutsch-polnische Verhältnis sind die Ermittlungen heikel. Neben der Ukraine gehörte Polen immer zu den schärfsten Kritikern der Ostseepipeline Nord Stream 2. Eine Verbindung zu den Anschlägen ist nicht nachweisbar, ein gewisses Wohlwollen für die Zerstörung der Röhren aber zumindest vorstellbar. Und es fällt schon auf, dass der Hauptverdächtige sich offenkundig nach Erlass des Haftbefehls noch rechtzeitig aus Polen in die Ukraine absetzen konnte. Die polnische Seite erklärt das mit einem Versäumnis der deutschen Ermittler, weil man den Verdächtigen nicht im Schengen-Register eingetragen habe. Daher habe es keine rechtliche Grundlage gegeben, ihn an der Grenze aufzuhalten.

Compact Entscheidung 8:09

Auch hier wird der Kanzler viel Sensibilität walten lassen müssen, sollte der Fall eines Tages die politische Ebene erreichen. Jahrelang hatte das deutsch-polnische Verhältnis unter der gegenüber Deutschland sehr kritischen PiS-Regierung in Warschau gelitten. Seit der Wahl von Donald Tusk zum Premierminister sieht der Kanzler in Polen wieder einen Verbündeten mit ähnlichen politischen Vorstellungen. Dieses zarte Pflänzchen einer neuen Freundschaft wird er nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wollen.

Bleibt eine innenpolitische Tretmine: Sie betrifft die Weisungsbefugnis der Bundesregierung, namentlich des Justizministers, gegenüber der Bundesanwaltschaft. Im Zuge der Befreiung von Gefangenen aus mehreren Staaten, die in russischen Gefängnissen festgehalten wurden, hatte Minister Marco Buschmann erst jüngst den Generalbundesanwalt gegen dessen Überzeugung angewiesen, auf die Strafverfolgung des sogenannten Tiergarten-Mörders zu verzichten. 

Wadim Krassikow, der in Berlin einen Mann erschossen hatte und zu einer lebenslangen Haftstrafe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt worden war, konnte so im Austausch nach Russland entkommen, wo er von Wladimir Putin persönlich als Held empfangen wurde. Krassikows Freilassung zu verfügen sei seine bislang schwerste politische Entscheidung gewesen, sagte Buschmann danach dem stern im Interview. Und natürlich muss Buschmann wie die ganze Bundesregierung darauf bedacht sein, dass dieser Fall die absolute Ausnahme einer Einflussnahme bleibt.

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