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Opfer der Wahlrechtsreform: "Die Gratulation von Claudia Roth empfand ich als unangemessen und heuchlerisch"



Volker Ullrich hat bei der Bundestagswahl seinen Wahlkreis gewonnen, wird aber trotzdem nicht im neuen Bundestag vertreten sein. Das nervt ihn gewaltig.

Bei der Bundestagswahl 2025 wurde erstmals nach dem neuen Wahlrecht gewählt, das der Bundestag 2023 beschlossen hat. Die Reform beinhaltet die Abschaffung der sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate. Die Zahl der Sitze wird auf 630 festgelegt. Gewinnt eine Partei also mehr Direktmandate, als ihr nach den Zweitstimmen Sitze zustehen, fallen einige Direktmandate weg. Dabei gilt: Je höher der Sieg in einem Wahlkreis ausfällt, desto größer ist die Chance, in den Bundestag einzuziehen. 

Herr Ullrich, Sie haben den Wahlkreis Augsburg-Stadt gewonnen und werden trotzdem nicht in den nächsten Bundestag einziehen. Waren Sie schon im Voraus darauf vorbereitet, dass so etwas passieren könnte?
Ich wusste um die Risiken, die sich aus der unfairen und undemokratischen Wahlrechtsreform der Ampel ergeben können. Aber angesichts eines sehr engagierten Wahlkampfes bin ich davon ausgegangen, dass es noch klappen kann. Ich habe ja meinen Wahlkreis mit deutlichen Vorsprung gewonnen.

Die Wahlrechtsreform wurde 2023 vom Bundestag beschlossen und vom Bundesverfassungsgericht geprüft. Wie kann sie undemokratisch sein?
Das Bundesverfassungsgericht hat die Wahlrechtsreform in Teilen beanstandet und in Teilen aufrechterhalten. Die Begründung für die so genannte Zweitstimmendeckung, also die Streichung gewonnener Direktmandate, überzeugt mich und viele Verfassungsrechtler aber nach wie vor nicht. Ich bin der Ansicht, wer einen Wahlkreis gewinnt, muss nach dem Demokratieprinzip auch in den Deutschen Bundestag einziehen.

Im Internet kursiert ein Video, in dem Sie Claudia Roth vorwerfen, keine Demokratin zu sein. Zuvor hatten Sie ihr den Handschlag verweigert. Wie kam es zu diesem Vorfall?
Claudia Roth wollte mir zu meinem Direktmandat gratulieren, obwohl ich ja nicht in den Bundestag einziehe. Das habe ich daraufhin mit dem Hinweis verweigert, dass zum einen der Wahlkreis im Vorfeld der Bundestagswahl durch die Herausnahme der Stadt Königsbrunn zu Gunsten der Grünen verändert wurde. Und zum anderen, dass Claudia Roth mit ihrer Stimme für das Ampel-Wahlrecht mitverantwortlich ist. Insofern empfand ich die Gratulation in diesem Augenblick als etwas unangemessen oder heuchlerisch.

Und für die Veränderung des Wahlkreises ist Claudia Roth verantwortlich?
Die Änderung des Wahlkreiszuschnitts war ein Wunsch der Ampel. Die Bayerische Staatsregierung hat eine andere Lösung vorgeschlagen.

Danach sollen Sie sich Berichten zufolge bei Claudia Roth entschuldigt haben. Wie stehen Sie inzwischen dazu, was sie ihr an den Kopf geworfen haben?
Der Begriff der Antidemokratin ist sicherlich dem Eifer des Gefechts geschuldet und unangemessen. Allerdings bleibt der politische Vorwurf, dass auch sie als Teil der Ampel dieses Wahlrecht und damit auch das Ergebnis politisch zu verantworten hat, dass direkt Gewählte nicht in den Bundestag einziehen.

Was genau stört Sie an der Wahlrechtsreform?
Mich stört der Umstand, dass eine Wahl stattfindet, es einen Sieger gibt und die Wählerinnen und Wähler auch davon ausgehen, dass der Sieger in das Parlament einzieht, so wie es 75 Jahre Staatspraxis in Deutschland war und es dann eben nicht passiert.

Die Union hat 16 Jahre lang regiert, ohne eine Reform durchzusetzen, die die Aufblähung des Bundestages ausreichend verhindert. Da darf man sich doch nicht wundern, wenn andere Regierungen dann das Problem angehen.
Einspruch. Die Union hat im Jahr 2020 in der damaligen Großen Koalition das Wahlrecht reformiert und den Bundestag verkleinert. Sie hat sogar die Zahl der Wahlkreise auf 280 reduziert. Diese Wahlrechtsreform stand im Bundesgesetzblatt und ist vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Nur zur Anwendung kam sie nie.

Wieso nicht?
Die Reform war für die Bundestagswahl 2025 vorgesehen. Die Ampel hat sie durch ihre eigene Reform ersetzt.

Was wäre denn Ihr Vorschlag, um das Wahlrecht zu reformieren?
Selbstverständlich muss der Bundestag kleiner werden. Das kann und muss erreicht werden durch eine Reduzierung der Wahlkreise mit der Maßgabe, dass in jedem Wahlkreis der Gewinner auch in das Parlament einzieht. Natürlich mit ausreichenden Listenmandaten und einer Verrechnung, die entweder auf einem echten Zweistimmenwahlrecht beruht oder die Zulassung von gewissen ausgleichslosen Überhangmandaten. Diese hat das Bundesverfassungsgericht bereits für zulässig erklärt.

Wären ausgleichslose Überhangmandate nicht wiederum ein ungerechter Vorteil für die Union?
Man könnte die Überhangmandate auch begrenzen oder deutschlandweit verrechnen. 1998 und 2002 hätte die SPD davon profitiert.

Ist eine erneute Änderung des Wahlrechts wirklich der richtige Schritt? Wird es für den Wähler nicht immer verwirrender, wenn bei jeder Wahl neue Regeln gelten?
Verwirrender als bei dieser Wahl geht es ja gar nicht mehr. In allen 299 Wahlkreisen haben die Kandidaten so getan, als ob der Sieger in den Bundestag einzieht. Die Wähler gingen zu einem sicherlich nicht unerheblichen Teil davon aus, dass dem genauso ist. Dieses Wahlrecht ist, um den verstorbenen Wolfgang Schäuble zu zitieren, ein "Wahlrecht der Täuschung und Enttäuschung des Wählers". Ein solches Wahlrecht kann und darf in der Staatspraxis nicht bestehen bleiben.

Sie scheiden nach zwölf Jahren aus dem Bundestag aus. Was haben Sie jetzt vor?
Das Ergebnis erst einmal sacken lassen und dann mal sehen. Vielleicht wäre es auch angebracht, zumindest zu prüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, das Ergebnis verfassungsrechtlich zu überprüfen oder eine Wahlprüfungsbeschwerde einzulegen. Da bin ich aber noch nicht abschließend entschieden. 

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