Miese Umfragewerte, zerbrochene Regierung und dann auch noch eine parteiinterne Debatte über den richtigen Mann an der Spitze: In turbulenten Zeiten nominiert der SPD-Vorstand Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten. Der hat tatsächlich Argumente auf seiner Seite, findet sie aber vor allem in seinem Gegner.
Olaf Scholz ist der Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl am 23. Februar. Dass die formelle Festlegung auf den Amtsinhaber durch den SPD-Parteivorstand überhaupt eine Nachricht ist, erzählt schon das ganze Dilemma der Sozialdemokraten: In der Vorwoche war die parteiinterne Debatte 'Olaf Scholz oder doch lieber Boris Pistorius?' unerwartet heftig hochgekocht. Der Vorstand der SPD-Bundestagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen hatte sich öffentlich für Pistorius ausgesprochen. Der Bundesverteidigungsminister erklärte nach dreitägiger Zerreißprobe für die SPD per Videobotschaft, er stehe für die Spitzenkandidatur nicht zur Verfügung. Damit ist Scholz seit Donnerstag nach freundlicher Lesart der logische Kanzlerkandidat, nach weniger freundlicher Lesart der Kanzlerkandidat mangels Alternativen. Denn außer dem in allen Umfragen besonders beliebten Pistorius hatte sich niemand in der SPD als möglicher Kandidat oder Kandidatin aufgedrängt.
Eine Woche nach dem Aufstand des NRW-Abgeordneten waren die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken sichtlich darum bemüht, eine neue Geschlossenheit ihrer Partei zu demonstrieren. Einstimmig hätten sich die Gremien hinter Scholz gestellt, sagte Esken bei der Vorstellung des Kanzlerkandidaten in der Parteizentrale Willy-Brandt-Haus. "Mit seiner prinzipienfesten, entschlossenen Art ist er der richtige Mann fürs Kanzleramt", sagte Esken. Klingbeil wollte eine "kämpferische Haltung" in der SPD ausgemacht haben. Scholz bedankte sich für ein "sehr klares, sehr einvernehmliches Votum" für seine Person. "Ich fand es in Ordnung, dass da kurz innegehalten wurde", sagte Scholz über die Kandidatendebatte. Er selbst habe sich schließlich diese Frage auch "immer wieder gestellt". Für Pistorius und seine Amtsführung hatte er nichts als Lob, eine besondere Rolle sei ihm im Wahlkampf dennoch nicht zugedacht. Warum, blieb unklar.
Merz, der Risikokandidat
Es wäre ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte gewesen, hätte die SPD jemand anderem als dem Amtsinhaber aus der eigenen Partei die Kanzlerkandidatur angetragen. Die Debatte über Scholz' Eignung entfachte sich an den schlechten Umfragewerten der SPD und den noch schlechteren persönlichen Zustimmungswerten des Regierungschefs. Zweifel an Scholz' Eignung zum Zugpferd einer ambitionierten Aufholjagd hegen auch Parteigenossen, die Pistorius nicht für die bessere Wahl halten. Schon die verhunzte Europawahlkampagne im Frühjahr hatte schließlich gezeigt, dass die SPD keine Prozentpunkte hinzugewinnt, indem sie großflächig den Kanzler plakatiert.
Strategisch spricht dennoch einiges dafür, den bekanntesten SPD-Politiker mit der meisten Erfahrung antreten zu lassen gegen den Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, dessen CDU/CSU in Umfragen mit großem Abstand vorn liegt. "Friedrich Merz hat null Regierungserfahrung", sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch in der ntv-Sendung Frühstart. Dagegen habe Scholz "dieses Land in sehr unsicheren Zeiten sicher geführt". Die SPD setzt darauf, dass die Menschen in Deutschland im Zweifel dazu neigen, ihnen vertraute Gesichter wiederzuwählen, anstatt etwas - besser: jemand - Neues zu wagen.
Das wurde auch aus Klingbeils Einlassungen deutlich: Der CDU-Chef sei noch nie Bürgermeister, Landrat, Regierungsmitglied oder gar Regierungschef gewesen. "Das Experiment wäre doch sehr groß, so jemanden an die Spitze dieses Landes zu wählen und erst recht in diesen Zeiten", sagte Klingbeil. Merz als unwägbares Risiko zu porträtieren, wird ein Grundpfeiler der SPD-Wahlkampagne sein. Olaf Scholz als sprichwörtlicher Spatz in der Hand statt der Taube auf dem Dach, die laut von einer Rückabwicklung der Ampel-Jahre gurrt.
Auch Scholz attackiert Merz
Hoffnung schöpft die Partei auch aus ebenjenem Wahlkampf, der Scholz überhaupt erst ins Amt gebracht hatte: War Scholz nicht 2021 derjenige, der mit bemerkenswerter Ausdauer einen fehlerfreien Wahlkampfauftritt nach dem anderen hinlegte, während sich die Gegenkandidaten Armin Laschet und Annalena Baerbock mit eigenen Patzern selbst aus dem Rennen nahmen? Zu dieser Hoffnung passt das verbreitete Bild von Merz als mitunter erratischem, eruptivem Politiker, der sich unter Druck nicht immer im Griff habe.
Andererseits ist Merz seit Monaten in kein nennenswertes Fettnäpfchen getreten. Er macht sich seit Wochen rar und dennoch - oder gerade deshalb - bleiben er und die Union in den Umfragen vorn. Das ist auch im Willy-Brandt-Haus aufgefallen: Die SPD werde Merz "nicht durchkommen lassen mit dem, was wir gerade erleben, dass er sich versteckt", sagte Klingbeil. "Je mehr Menschen ihn kennenlernen, desto weniger wählen ihn vielleicht: So scheint gerade die Wahltaktik der Union zu sein." Scholz sagte, die Bundestagswahl sei "offensichtlich die Auseinandersetzung Olaf Scholz oder Friedrich Merz". Zur Strategie gehört offensichtlich, die Wahl auf das Duell zuzuspitzen und etwa den grünen Robert Habeck gar nicht erst in den Kreis der möglichen nächsten Kanzler vordringen zu lassen.
Scholz ging auch auf die vermeintliche programmatische Schwäche der Union ein, auf eine Flucht von Merz ins Ungefähre. "Das Thema, vor dem man sich nicht drücken darf, ist in der Tat: Wie kriegen wir das hin, dass wir mehr Geld ausgeben im Äußeren und im Inneren und dass das nicht zulasten von Zukunft und Zusammenhalt in der Bundesrepublik Deutschland geht?", sagte Scholz mit Verweis auf 30 Milliarden Euro jährlich, die es ab 2028 zusätzlich braucht für das NATO-Ziel von Verteidigungsausgaben in Höhe von mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die SPD wolle hierfür große Vermögen stärker belasten und die Schuldenbremse reformieren.
Der nächste Stellenabbau platzt in die Scholz-Kür
Am Samstag plant die SPD-Spitze bei ihrer "Wahlsiegkonferenz" den Fahrplan zur Verteidigung des Kanzleramtes festzulegen. Am Vormittag werden sich die Vorsitzenden Klingbeil und Esken mit Reden an die Öffentlichkeit wenden, anschließend der frisch gekürte Kanzlerkandidat Scholz. Ab Mittag brüten die Spitzen und ihre Berater dann über Inhalte, Termine und Aussehen der eigenen Kampagne. Einen Vorgeschmack auf die kommenden Wochen gibt eine schon vorab festgelegte Kampagne, die das inhaltliche Profil der Partei schärfen soll. "Wir kämpfen für ..." heißt der Slogan, mit dem die SPD zentrale Versprechen wie sichere Renten, bessere Löhne, den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme und mehr Investitionen bewerben will.
Nach drei Jahren schwieriger Ampelkompromisse muss die Partei wieder ihr eigenes Profil schärfen. Gerechtigkeitsfragen waren zwar in den Wahlkämpfen der vergangenen Jahre eher nachrangig, dennoch wähnt sich die SPD hier im Vorteil gegenüber Merz: Der stehe für Rentenkürzungen, Sozialabbau, rigide Sparpolitik und kümmere sich eher um die Belange der obersten ein bis zehn Prozent als um die breite Mitte. Das Wahlkampfmotto von 2021, das "Respekt" vor jeder Lebensleitung und -lage versprach, wird reanimiert.
Auch die Sicherung des Industriestandorts Deutschland soll eine zentrale Rolle spielen. Tragischerweise platzte inmitten der Vorstellung des Kanzlerkandidaten Scholz die Nachricht, dass der Stahlkonzern ThyssenKrupp viele Tausend Stellen in Deutschland abbauen will. Die nächste Hiobsbotschaft nach den Streichungen bei Bosch, Continental, Ford, Schaeffler, Volkswagen und weiteren Aushängeschildern der deutschen Industrie.
Irgendwie die Partei mobilisieren
In dieser Lage muss die SPD nun ein Aufbruchsignal setzen, das sowohl die Wähler als auch die eigene Partei erreicht. Letzteres ist Pflicht, um zumindest einen Teil der mehr als 350.000 Mitglieder zur Unterstützung des Wahlkampfes zu animieren. Dabei kommt es insbesondere auf den bei den Jusos organisierten Parteinachwuchs an: Plakate kleben, Haustürwahlkampf machen und Stände betreuen. Doch gerade bei der Jusos ist der Enthusiasmus für den derob festgelegten Kanzlerkandidaten überschaubar.
Auf dem Juso-Kongress in Halle am vergangenen Wochenende sagte der Vorsitzende Philipp Türmer, es gehe weder um Scholz noch um Pistorius, sondern um die Themen, die den Jusos wichtig sind. Ein unverhohlenes Werben dafür, nicht für, sondern trotz des Spitzenkandidaten auf die Straße zu gehen.
In den übrigen Parteiniederungen sieht das nicht anders aus. Viele der aktuellen Bundestagsabgeordneten müssen um ihre Wiederwahl zittern. Setzt in den kommenden Wochen keine positive Dynamik für die SPD eintreten, droht stattdessen ein Strudel nach unten: Am 11. Januar will die SPD mit einem Bundesparteitag in Berlin ein Signal der Entschlossenheit aussenden. Die Stimmung auf dem Parteitag dürfte Gradmesser werden, ob wirklich die gesamte Partei auf den letzten Metern mitziehen wird. Wenn nicht, könnte schon vorzeitig eine Debatte über die gesamte Parteiführung ausbrechen.
Wie lange hält der Frieden?
Eine "Shit-Show" attestierte Türmer seiner Parteiführung. Die habe den Prozess zur Festlegung auf Scholz nicht im Griff gehabt: Damit legte er den Finger in eine auch für Esken und Klingbeil unangenehme Debatte. Dass Scholz nicht um die Stimmung an der Basis und im Mittelbau weiß, ist das eine. Dass aber auch Esken und Klingbeil das Ausmaß an Missmut und Panik im Angesicht der Umfragen unterschätzten, ist Kennzeichen einer gefährlichen Entfremdung. Hätten die beiden sowie der noch im frisch im Amt tätige Generalsekretär Miersch nicht viel früher und offensiver in der Partei für den Kanzlerkandidaten Scholz werben müssen?
Das Trio bezeichnete Scholz seit Wochen als zwingend logischen Kandidaten. Diese Logik haben aber selbst jene Wohlmeinenden angezweifelt, die Scholz' desaströse Umfragewerte eher auf die hochkomplizierte Regierungskonstellation in der Ampelkoalition zurückgeführt haben, als auf dessen persönliche Defizite. Nun ist die Entscheidung gefallen. Alle müssen sich - schon um ihrer eigenen Mandate willen - hinter Scholz versammeln. Die Debatte über den richtigen Kanzlerkandidaten ist damit aber nicht beendet. Wenn es für die SPD schlecht läuft, bricht sie noch vor dem Wahltermin erneut auf - zum dann schlechtmöglichsten Zeitpunkt.