Olaf Scholz will aus einer Schwäche eine Tugend machen: Wer keine Kraft für Prioritäten hat, erklärt sie zum eigentlichen Übel.
Es gibt einflussreiche Leute in der CDU und CSU, die meinen, die holprige Kür eines Kanzlerkandidaten hätte der SPD schon jetzt und endgültig den Rest gegeben. Das ist Unsinn. In 14 Tagen ist das Gestolper beim Publikum wahrscheinlich vergessen, zu Beginn des neuen Jahres auf jeden Fall. Es ist nämlich nicht die Frage, ob die Sozialdemokraten Wahlkampf können (mit Betonung auf Kampf) - das können sie.
Die Frage ist, womit sie Wahlkampf machen wollen - und das ist jetzt klar: Olaf Scholz will Wahlkampf machen, als wäre er in der Opposition und der Angreifer, nicht der herausgeforderte Amtsinhaber. Er will Wahlkampf machen gegen das, was er von Friedrich Merz erwartet oder ihm unterstellt. Es wird ein SPD-Wahlkampf, der aus einer zentralen Schwäche eine Stärke machen soll: Wer keine Kraft oder keinen Willen zu politischen Prioritäten hat, der erklärt genau diese zum eigentlichen Übel. Das tut Olaf Scholz, er nennt das "Entweder Oder" sogar "verhängnisvoll" - für den Zusammenhalt des ganzen Landes. Mehr Tremolo geht kaum.
Dazu erklärt der amtierende Bundeskanzler "stabile Renten" und "Unterstützung für die Ukraine" zu einem Widerspruch, den nur seine Politik auflösen oder vermeiden könne. Er stellt "Investitionen in die Zukunft" gegen Abstriche "bei Gesundheit oder Pflege" oder im Sozialstaat, als ließe sich das eine nur auf Kosten des anderen finanzieren, wenn nicht massiv mehr Schulden gemacht würden. Es wäre aber erst noch zu klären, ob diese - vermeintlichen - Gegensätze wirklich unversöhnlich sind. Die alte Regierung Scholz hat sich davor gedrückt.
Und selbst wenn: Die Dinge in "wichtig" oder "nicht so wichtig" einzuordnen, ist normalerweise die Arbeit von Parlamenten und Regierungen, die Arbeit von Politik schlechthin. Am liebsten alles für alle - "Sowohl-als auch" nennt es Olaf Scholz - das ist normalerweise der Ansatz von Populisten, die sich bei allen beliebt machen wollen. Und es ist der Sinn von Wahlkämpfen und Wahlen, die parteiweise unterschiedlichen Sets von Prioritäten zu bejahen oder zu verwerfen. Indem Olaf Scholz dieses Format der Auseinandersetzung am liebsten gar nicht erst annehmen will, führt er den Wahlkampf in Teilen ad absurdum. Ein Kanzlerkandidat, der nicht Wahlkampf machen will: Was soll das?
Ohne Zumutungen wird es nicht gehen
Außerdem ist der SPD-Slogan "kein Entweder Oder" absichtsvoll missverständlich, er führt in die Irre. Als konkretes Versprechen für alles Mögliche und Freibier obendrauf kann selbst Olaf Scholz es nicht meinen, so ein Hallodri ist er nicht. Er könnte stattdessen eine Art versöhnende Haltung, eine warme gesamtgesellschaftliche Umarmung im Sinn haben. Aber das führt geradewegs an den Punkt zurück, an dem die alte Regierung zerbrach: Die Krisen sind zu viele, zu vielfältig und zu strukturell, als dass sie ohne Zumutungen für bestimmte Gruppen zu überwinden wären. Schuldenbremse hin oder her: In der nächsten Regierung wird es für bestimmte Gruppen kein "Weiter so" mehr geben. Es fragt sich nur, für welche und wie abrupt.
Das alles leugnet der Angang der SPD für diesen Wahlkampf: Er tut so, als sei die Zukunft ein Nullsummenspiel. Das ist sie nicht. Er tut so, als sei der Sozialstaat sakrosankt, weil wer ihn verändere, die Demokratie gefährde. Das ist Unsinn oder Wunschdenken von SPD-Funktionären. "Wo wir sind, ist immer vorn", soll Erich Honecker gern gesagt haben. "Und wenn wir mal hinten sind, dann ist eben hinten vorn", sollen seine Spötter ergänzt haben. Olaf Scholz ist hinten. Ob er nochmal nach vorn kommt und wie, das entscheiden die Wähler.