Die Sahra-Wagenknecht-Partei hatte einen größeren Einfluss auf potenzielle AfD-Wähler als bislang bekannt. Der Erfolg des BSW hängt aber vor allem am Krieg gegen die Ukraine.
Das Ziel hatte Sahra Wagenknecht deutlich formuliert: Ihre neue Partei solle eine "seriöse Adresse" sein für alle jene, die "aus Wut oder Verzweiflung" die AfD wählen, "aber eben nicht, weil sie rechts" seien. So sagte sie es kurz vor der Gründung der nach ihr benannten Partei. "Wir sind die Alternative zur Alternative", assistierte später die thüringische Landesvorsitzende Katja Wolf.
Auch Politikwissenschaftler, Demoskopen und die politische Konkurrenz gingen davon aus, dass das BSW zumindest die AfD schwächen könne. Umso erstaunlicher war das Bild, das sich am Abend der Europawahl bot. Obwohl das BSW von null auf 6,2 Prozent kam und in Ostdeutschland zweistellig wurde, schob sich die AfD um fast fünf Prozentpunkte auf 15,9 Prozent – und damit auf Platz 2 hinter die Union.
Laut der Analyse des Meinungsforschungsinstitutes Infratest-Dimap zur Wählerwanderung hatte die neue Partei kaum bei der AfD geräubert. Stattdessen kam mehr als ein Fünftel der BSW-Wähler von der SPD, dicht gefolgt von der Linkspartei. EU-Wahl Wählerwanderung 09.19
Bei den Landtagswahlen im Herbst wiederholte sich das in ähnlicher Form. Nun hieß es, Wagenknecht schwäche nicht die AfD, sondern die Mitte.
Doch eine neue Untersuchung zeigt: Der Einfluss des BSW ist größer, als es bisher den Anschein hatte. Sie erscheint demnächst in der Fachzeitschrift "Research & Politics" und liegt dem stern vor.
Im Unterschied zu Infratest-Dimap griffen die Politikwissenschaftler Constantin Wurthmann, Sarah Wagner und Leon Heckmann nicht nur auf frühere Wahlergebnisse und Nachwahlumfragen zurück, sondern auch auf Daten aus der German Longitudinal Election Study (GLES). Die Langzeitbefragung wird in unregelmäßigen Abständen durchgeführt und erfasst die politischen Einstellungen und Wahlabsichten der Teilnehmer.
Das Team verglich die GLES-Ergebnisse aus dem Oktober 2023, als es das BSW noch nicht gab, mit den Daten nach der Europawahl. Und siehe: Damals hatte tatsächlich ein großer Teil der späteren BSW-Wähler noch die Absicht, AfD zu wählen.
Sahra Wagenknecht und der Angriffskrieg gegen die Ukraine
Legt man also diese Zahlen zugrunde, liegt bei der Wählerwanderung Richtung BSW tatsächlich die AfD vorne, gemeinsam mit der Linken. Erst danach kommen Union und SPD – und mit etwas Abstand Grüne und FDP. Beim Zustrom aus der AfD handelt es sich vielfach um frühere SPD-, Linken- und FDP-Anhänger, die zwischenzeitlich zur AfD tendierten.
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Für den Zuspruch zur Wagenknecht-Partei sorgt vor allem ein Thema: die Haltung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Die Ablehnung der deutschen Unterstützung für die Ukraine sei der mit Abstand entscheidende Einflussfaktor gewesen, um Menschen zum BSW zu bringen, schreiben die Autoren.
Demnach sind vormalige SPD-Anhänger, die schließlich das BSW wählten, deutlich kritischer gegenüber den Ukraine-Hilfen eingestellt als andere Menschen, die 2021 SPD wählten. Am stärksten tritt das bei jenen zutage, die sich zwischenzeitlich sogar der AfD zuwandten. Sie lehnen auch Migration stärker ab. Ein Ukraine-Effekt zeigt sich auch bei Menschen, die der Union "abtrünnig" wurden.
AfD-Aufschwung konnte wohl gebremst werden
Co-Autorin Sarah Wagner sagt, das BSW habe für viele Menschen eine Repräsentationslücke geschlossen, indem es Migrationskritik mit einer Mitte-links-Wirtschaftspolitik verbinde. BSW-Wähler etwa, die von der Linken kamen, seien vor allem migrationskritischer als Linken-Wähler. Für den Erfolg der Partei wäre das jedoch zu wenig.
Es habe die Personalisierung auf die beliebte, aber auch polarisierende Sahra Wagenknecht gebraucht. "Und", so Wagner, "es brauchte das Hauptthema Ukraine-Politik." Die Partei besetze das Thema mittlerweile "fast so stark" wie die Grünen das Klima und die AfD Migration. "Da kommt jetzt kaum eine andere Partei mehr ran."
Kolumne Ost: Wie Ossis wählen 05.53
Auch deshalb habe man bei der Europawahl "einen relevanten Abfluss an Menschen von der AfD weg erlebt". Für diese Menschen sei das BSW "tatsächlich eine 'Alternative zur Alternative'". Wagner schränkt gleichzeitig ein: AfD-Stammwähler seien kaum bis gar nicht vom BSW mobilisiert worden. "Die erreicht nicht mal Sahra Wagenknecht – trotz ihrer Popularität."
BSW will Russland entgegenkommen
BSW und AfD haben sich zuletzt wieder schärfer attackiert. Aus den Reihen der AfD heißt es, das BSW sei nur die "neueste Altpartei", weil es nun in Thüringen und Brandenburg mit CDU und SPD koaliere.
Sahra Wagenknecht wiederum greift die AfD für ihre Wirtschaftspolitik an. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel stehe für einen "Ellenbogenkapitalismus" à la Margaret Thatcher, sagte Wagenknecht Ende Dezember.
Ihr Generalsekretär Christian Leye zeigt sich nicht überrascht von den neuen Daten. "Das deckt sich mit unseren internen Analysen", so Leye zum stern. Anders als die AfD sei das BSW "konsequent in der Friedensfrage".
Sahra Wagenknecht spricht von "Stellvertreterkrieg" in der Ukraine
Was das bedeutet, zeigt der Entwurf seines Wahlprogramms, das das BSW am Sonntag auf einem Parteitag beschließen will. Gefordert wird dort ein "Waffenstillstand ohne Vorbedingungen" zwischen der Ukraine und Russland, ein Ende der Waffenlieferungen und Verhandlungen mit Russland über die Wiederinbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream.
Statt von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ist von einem "Stellvertreterkrieg" die Rede und ganz allgemein davon, dass Russland sich "gegen westliche Militäreinrichtungen in seiner Peripherie wehrt".
Eine Mehrheit der Deutschen lehne Waffenlieferungen an die Ukraine ab, sagte Leye. "Das BSW vertritt diese Mehrheit – die anderen etablierten Parteien nicht." Umfragen liefern in dieser Frage allerdings teils widersprüchliche Ergebnisse.
SPD hofft mit Ukraine-Politik auf Wiederholung von 2021
Und die SPD? Generalsekretär Matthias Miersch gibt sich kämpferisch. "Die Wählerwanderungen zeigen, wie volatil Wahlen geworden sind", sagte er dem stern. 2021 hätte vor allem die SPD profitiert und so die Bundestagswahl "entgegen allen Umfragen" gewonnen.
Das soll mit Olaf Scholz nun ein zweites Mal gelingen. Der Kanzler setzt auf die Ukraine-Karte, genauer: sein Nein zur Lieferung des Marschflugkörpers "Taurus" an die Ukraine. Befürwortern wie Unionskandidat Friedrich Merz wirft er auch schon mal "Russisch Roulette" vor.
Für Miersch kein Problem. Die SPD nehme die Sorgen der Menschen ernst – bei der Ukraine-Politik ebenso wie bei Migration und Wirtschaft. "Wer bei uns eine Politik der Spaltung sucht, wird enttäuscht." Wagenknecht räumt Fehleinschätzung zur Lage vor Beginn von Russlands Angriffskrieg ein 08.23
Und dennoch: Die AfD steht in aktuellen Umfragen bei 18 bis 20 Prozent, also vor der SPD, die nur auf 14 bis 17 Prozent kommt. Das BSW hat zuletzt an Zustimmung eingebüßt und muss mit vier bis sieben Prozent um den Einzug in den Bundestag bangen.
Für Politikwissenschaftlerin Wagner ist allerdings noch vieles in Bewegung. "Die aktuellen Umfragen kommen jedenfalls zu früh für einen wirklichen Trend", sagt sie.