Es ist eine der lebensfeindlichsten Regionen auf der Erde: In den Eislandschaften der Arktis leben nur wenige Menschen. Und dennoch ist das riesengroße Gebiet strategisch wichtig - ökonomisch und militärisch. Russland und die NATO stehen sich in der Arktis gegenüber. Der Westen hat viel aufzuholen.
Extreme Kälte, Schnee, Graupel, Nebel, Eismassen- in der Arktis kommen selbst Kriegsschiffe und ihre Besatzung an ihre Grenzen. Und dennoch will die NATO ihre Präsenz in der Region mehr und mehr ausbauen. Sollte es eines Tages Krieg mit Russland geben, ist die Arktis nämlich strategisch enorm wichtig. Und der Westen hat in dem riesigen Gebiet viel aufzuholen.
Russland ist der mächtigste Akteur in der Arktis und zeigt das auch immer wieder. 2007 ließ der Kreml in über 4000 Metern Tiefe unter dem Nordpol eine russische Flagge in den Meeresboden rammen, um symbolisch den russischen Anspruch auf die Rohstoffe unter dem Nordpol zu untermauern.
Russland ist der größte Anrainerstaat der Arktis, will sich aber mit den eigenen rund 24.000 Küstenkilometern und den Bodenschätzen in der Region nicht zufriedengeben. Außenminister Sergej Lawrow sagte vor drei Jahren, die gesamte Arktis sei russisches Territorium. "Es ist schon lange bekannt, dass dies unser Boden ist." 2022 hat Moskau seine neue Marine-Doktrin veröffentlicht und darin angekündigt, dass die Arktis höchste Priorität habe.
Die Arktis hat für Russland eine große wirtschaftliche Bedeutung. Denn dort wird das meiste russische Gas und Öl gefördert und noch viele weitere Gas- und Ölfelder werden hier vermutet. "Russland hat als größter Arktisstaat schon seit dem 18. Jahrhundert Rohstoffe aus Sibirien exportiert und ist jetzt natürlich stark im Gas- und Ölgeschäft", sagte Michael Paul, Arktis-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in einem Interview mit der Deutschen Welle. "Die Arktis bietet von Grönland bis zur russischen Arktis aber natürlich noch sehr viel mehr Ressourcen, von seltenen Erden bis zu Diamanten."
Meisten Arktisbewohner leben in Russland
Die Arktis erstreckt sich von Alaska über Kanada, Grönland, Island, Skandinavien und über zwei Drittel der Küstenlinie Russlands hinweg. Etwa 2,5 Millionen der insgesamt rund 4 Millionen Arktisbewohner leben auf russischem Boden. Vier der fünf größten Arktisstädte liegen in Russland, darunter die wichtigste Hafenstadt Murmansk auf der Kola-Halbinsel. Hier im äußersten Nordwesten des Landes ist die Arktis am stärksten ausgebaut, mit der modernsten Infrastruktur: Eisenbahnlinien, Straßen, Tiefseehäfen. Die anderen Teile der Arktis sind meist nur über den Seeweg und aus der Luft erreichbar. Straßen und Eisenbahnstrecken gibt es hier nicht, wenn überhaupt nur kleinere Häfen und Landeplätze für Flugzeuge.
Die bitterkalte Arktis ist deshalb ein militärisch so heißer Schauplatz, weil sich der Westen und Russland hier besonders nahe sind. Während des Kalten Krieges misstrauten sich die verfeindeten Blöcke über Jahrzehnte. Beide Seiten setzten U-Boote mit ballistischen Raketen ein, kreuzten zur Abschreckung unter dem dicken Eis hin und her.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Arktis schlagartig weniger wichtig. Es gab keine gegenseitige militärische Bedrohung mehr. Russland rüstete ab. Die vielen Militäreinrichtungen und Flugplätze zu halten, war nach dem Zerfall der Sowjetunion einfach zu teuer. Erst nachdem sich Russland von dem Umbruch erholt und finanziell konsolidiert hatte, baute Moskau seine Präsenz in der Arktis nach und nach wieder aus.
Der nördlichste Außenposten Russlands
Seit etwa 20 Jahren gibt es wieder regelmäßige Marinepatrouillen, auch mit russischen U-Booten. Es wurden auch komplett neue Militärstützpunkte gebaut - zum Beispiel auf Alexandraland, einem Teil von Franz-Josef-Land, einer unbewohnten russischen Inselgruppe in der Arktis, die aber militärisch genutzt wird. "Alexandraland ist einer der bedeutendsten Militärkomplexe Russlands. Es ist der nördlichste militärische Außenposten des Landes und bietet entscheidende militärische Fähigkeiten in der Luft, zu Wasser und zu Lande zum Schutz der Kola-Halbinsel", beschrieb der "Guardian" in einer Reportage Anfang dieses Jahres.
Über 50 Militärstützpunkte aus der Sowjetzeit wurden in der Arktis wieder eröffnet - darunter 13 Luftwaffenbasen, 10 Radarstationen und 20 Grenzposten. Außerdem hat Russland seine Nordflotte modernisiert - mit neuen U-Booten, die Langstrecken-Atomwaffen abfeuern können. Erst kürzlich unterstrich Außenminister Lawrow, dass Russland für einen Konflikt mit der NATO in der Arktis "vollkommen bereit" sei.
GIUK-Lücke sichert Zugang zum Atlantik
Wie wichtig die militärische Kontrolle der Arktis im Kriegsfall ist, zeigt sich am Beispiel des europäischen Teils der Arktis. Die sogenannte GIUK-Lücke sichert den Zugang zum Atlantik. GIUK steht für "Greenland, Iceland, United Kingdom" und meint den Bereich zwischen dem Norden Großbritanniens und Island sowie Island und Grönland. Wer hier die Oberhand hat, kontrolliert den strategisch wichtigen Zugang zum Atlantik und damit den Seeweg in Richtung der US-Ostküste.
Das weiß auch die NATO und möchte deshalb ihre Präsenz in der Arktis ausbauen. Das westliche Verteidigungsbündnis hat viel aufzuholen in der Region. Russland dominiert die Arktis militärisch. Der Westen habe die Arktis "sicherheitspolitisch lange vernachlässigt", sagte Experte Michael Paul der Zeitung "Die Welt".
Das US-Militär hat derzeit nur ein einziges schweres Eisbrecherschiff für Arktis-Einsätze zur Verfügung; Kanada und Finnland sind besser aufgestellt. Russland allein hat aber mehr als 40 solcher Schiffe und baut derzeit weitere. Wegen der extrem langen Küste ist das vielleicht keine Überraschung, könnte für die NATO im Ernstfall aber doch zum Problem werden.
Mehr Zusammenarbeit durch NATO-Erweiterung
Die NATO will den Rückstand zu Russland in der Arktis so schnell es geht aufholen - dabei helfen könnten die NATO-Beitritte von Finnland und Schweden. Dadurch sind jetzt sieben der acht Mitgliedstaaten des Arktischen Rates in der NATO: die USA, Kanada, Dänemark für Grönland, Island, Norwegen, Schweden und Finnland. Der Arktische Rat ist ein Gremium, das 1996 zum Interessenausgleich zwischen den arktischen Anrainerländern und den in der Region lebenden indigenen Völkern gegründet wurde. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine finden aber keine gemeinsamen Treffen mehr statt.
Durch die NATO-Erweiterung können Arktisländer künftig besser zusammenarbeiten. Washington hat kürzlich bereits mit Norwegen, Schweden und Finnland beschlossen, dass US-Streitkräfte Militäreinrichtungen in den nordeuropäischen Ländern benutzen dürfen. Zudem wollen die USA, Kanada und Finnland beim Bau neuer eisbrechender Schiffe zusammenarbeiten. Die NATO möchte damit ein Zeichen an Russland senden, dass man in der Arktis künftig geschlossener und vor allem präsenter auftreten wird.
Ein solches Zeichen sollte auch mit der riesigen NATO-Übung "Nordic Response" Anfang des Jahres gesendet werden. 20.000 Soldaten aus 13 Ländern nahmen an dem Manöver im Rahmen der NATO-Übung "Steadfast Defender" teil. Dabei wurde ein Angriff von Russland auf Norwegen simuliert.
Kooperation mit China
Aber auch Russland ist in der Arktis nicht auf sich allein gestellt. Moskau arbeitet immer stärker mit China zusammen, "um Ressourcen auszubeuten und Handelswege zu öffnen", berichtet das Zentrum für europäische Politik-Analyse CEPA.
Im Zentrum steht dabei die Nördliche Seeroute. Diese verbindet Nordeuropa mit Asien und führt von Murmansk oberhalb der russischen Küste entlang bis an die Beringstraße bei Alaska. Es ist die mit 5600 Kilometern kürzeste, aber wegen der klimatischen Bedingungen auch gefährlichste Seeroute von Europa nach Asien. Das ändert sich aber gerade: Wegen der Erderwärmung ist die Route mittlerweile über einen längeren Zeitraum im Jahr eisfrei und damit schiffbar.
Russland sieht die Route als sein Eigentum an. Deshalb müssen sich Reedereien mindestens 45 Tage im Voraus eine Erlaubnis holen, wenn sie die Route befahren wollen. Für westliche Schiffe ist sie aus dem Grund kaum interessant. Vor allem seit der Ukraine-Invasion wird die Nördliche Seeroute fast nur von russischen Schiffen genutzt. Die 45-Tage-Regelung verschärfe den Konflikt, weil das Gesetz "klar gegen die Freiheit der Schifffahrt" verstoße, kommentierte die Stiftung Wissenschaft und Politik bereits vor vier Jahren.
Es sind Schikanen wie diese und natürlich die allgemeine geopolitische Großwetterlage, die die NATO dazu bringt, in der Arktis aktiver zu werden. Der Kalte Krieg zwischen Russland und dem Westen ist in dieser lebensfeindlichen Weltregion längst wieder da, allerdings mit einem großen Risiko verbunden. Die Kommunikation ist hier schwierig, durch Störungen und elektrische Stürme. Menschen und Maschinen kommen in der Arktis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
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