3 hours ago

Nach der Wahl: Anlasslose Massenüberwachung erwartbar



Im Kern ähneln sich viele innenpolitische Vorstellungen von Union und SPD: Kommt es zur Koalition, ist ein massiver Ausbau anlassloser Massenüberwachung absehbar. Außerdem stellte Merz am Wahlabend klar: Die deutsch-amerikanische Freundschaft ist dahin. Das wird vermutlich auch eine Zeitenwende in der Datenbeziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland einleiten.

Kanzlerkandiat Friedrich Merz am Podium der INSMCDU-Kanzlerkandiat Friedrich Merz (Archivbild) CC-BY-ND 2.0 INSM

Aktuell ist es wahrscheinlich, dass Deutschland eine Regierung aus CDU, CSU und SPD bekommen wird, wenn sich die Herren der Christenunion mit den verzwergten Sozialdemokraten auf eine Koalition einigen können. Aus dem Blickwinkel digitalpolitischer Fragen sind keine grundsätzlich verschiedenen Schwerpunkte auszumachen, die eine solche Einigung stark erschweren würden. Es dürften also andere politische Fragen sein, bei denen Kompromisse erstritten werden müssen.

Die neue Koalition wird allerdings deutlich mehr Opposition erfahren: von den Grünen und von der erstarkten Linken, aber auch von der AfD, die unerhört viele neue Abgeordnete in den Bundestag senden und die Parlamentsarbeit schon wegen dieser Größe stark verändern wird. Robert Habeck und Heidi Reichinnek werden einer schwarz-schwarz-roten Koalition sicher nichts schenken. Aber ob sie erwartbare Massenüberwachungsvorhaben in einer innenpolitisch weitgehend einigen Koalition bremsen können, bleibt abzuwarten.

Koalitionspartner bei anlassloser Massenüberwachung

Mit Blick auf die Wahlprogramme von CDU/CSU und SPD ist in Fragen der anlasslosen Massenüberwachung wenig Dissens zu erwarten: Der nächste Anlauf für eine gesetzliche Regelung einer Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten wird wohl nicht lange auf sich warten lassen. Die Union fordert das seit langem. Die SPD blieb im Wahlprogramm zwar etwas vage. Zuletzt hatte aber die SPD-Fraktion im Bundestag klargestellt, dass sie eine Vorratsdatenspeicherung befürwortet, „insbesondere die Speicherung von IP-Adressen“. Es dürfte wohl nur noch um Fragen des Umfangs und der Speicherlänge gehen.

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Auch anlasslose biometrische Massenüberwachung mit Systemen zur automatisierten Gesichtserkennung befürworten sowohl Unionschristen als auch Sozialdemokraten. Ebenfalls nur wenig strittig dürfte die Frage werden, ob die Polizeien des Bundes künftig auf automatisierte, auch KI-basierte Datenanalysen setzen dürfen. Das bejahen sowohl CDU/CSU als auch SPD.

Die Unionschristen setzen zwar noch auf die zusätzliche Auswertung von „sozialen Netzwerken“, aber im Kern ähneln die politischen Vorstellungen denen der SPD. Zuweilen gingen die Sozialdemokraten in Sachen Überwachungsideen über Forderungen der Konservativen hinaus. Die SPD-Innenministerin hatte gar Vorschläge in einen Referentenentwurf gießen lassen, die nicht mal der Union eingefallen waren: Sie wollte künftig heimlich in Wohnungen einbrechen, um Staatstrojaner leichter installieren zu können.

Einzig bei der Chatkontrolle bleibt abzuwarten, wie sich die potentiellen Koalitionspartner zu dem europäischen Vorhaben stellen werden. In den Wahlprogrammen blieb das Thema ohne Erwähnung.

„Echte Datenchancenpolitik“ statt Datenschutz

Merz hatte im Wahlkampf in Datenfragen einen deutlichen Hang dazu, den Datenschutz abzuwerten. Das zeigte sich etwa bei seiner geäußerten Idee zur Nutzung von Gesundheitsdaten. Man müsse Datenschutzbedenken zurückstellen und könne „zum Beispiel zehn Prozent niedrigere Krankenversicherungsbeiträge“ zahlen, wenn dafür die Gesundheitsdaten rausgerückt würden.

Die Union spiegelt diese Haltung auch in ihrem Programm, sie wolle eine „echte Datenchancenpolitik“. Der Grundsatz der Datenminimierung solle abgeschafft werden. Viel Widerspruch ist von der SPD nicht zu erwarten, sie hatte in ihrem Programm beim Datenschutz kaum Akzente gesetzt.

Louisa Specht-Riemenschneider, die neue Bundesdatenschutzbeauftragte, wird sich warm anziehen müssen, wenn sich diese Merzsche Haltung zum Datenschutz als Regierungspolitik durchsetzt. Auch zu dem zweiten wichtigen Bereich ihrer Behörde ist nichts Gutes zu erwarten: Informationsfreiheit und Transparenz hatten sowohl die Union als auch die Sozialdemokraten in ihrem Programm erst gar nicht erwähnt.

„Unabhängigkeit von den USA“

Eine enorme politische Veränderung kündigte Merz gestern nach der Wahl in der sogenannten Elefantenrunde an. Er verabschiedete sich faktisch von der bisher als Staatsräson behandelten deutsch-amerikanischen Freundschaft. Die stellt US-Präsident Donald Trump und seine Entourage derzeit auf eine harte Probe.

Merz fand so klare Worte dafür, dass trotz seiner bekannten Emotionalität und Wankelmütigkeit anzunehmen ist, dass er dies tatsächlich politisch umzusetzen versuchen wird. Er sagte konkret: „Für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Schritt auch wirklich Unabhängigkeit erreichen von den USA.“ Er merkte dann an, dass er selbst überrascht sei, etwas Derartiges in einer Fernsehsendung äußern zu müssen.

„Spätestens nach den Äußerungen aus der letzten Woche von Donald Trump ist klar, dass den Amerikanern – jedenfalls diesem Teil der Amerikaner, der amerikanischen Regierung – das Schicksal Europas weitgehend gleichgültig ist.“ Er sei nicht einmal sicher, ob es künftig die NATO in der „gegenwärtigen Verfassung“ noch geben werde. Merz mache sich „keine Illusionen“ darüber, was in den USA gerade stattfinde.

Auch dass US-Regierungsberater Elon Musk grobe Verbalattacken gegen die deutsche Regierung losließ und wochenlang offensiv die AfD unterstützte, erwähnte Merz in diesem Zusammenhang. „Schauen Sie bis in die jüngsten Tage hinein, was da von einem Herrn Elon Musk an Interventionen in den deutschen Wahlkampf stattgefunden hat. Das ist ein einmaliger Vorgang.“ Er nennt diese Einmischung „drastisch und unverschämt“ und fügt an, sie sei nicht weniger dreist als „die Interventionen, die wir aus Moskau gesehen haben“. Deutschland stünde nun „von zwei Seiten unter Druck“.

Mehr als ein kleines bisschen dürfte sich Merz auf den Schlips getreten gefühlt haben, dass der zweite starke Mann in Washington derart schamlos für die CDU-Konkurrenz AfD geworben hat, wie es in der Geschichte in der Bundesrepublik bisher undenkbar schien. Aber wenn man diese Äußerungen ernst nimmt, müsste auch eine Zeitenwende in der Datenbeziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland beginnen.

Denn wer eine „Unabhängigkeit von den USA“ anstrebt, kann nicht weiter strukturell abhängig von deren Tech-Konzernen bleiben. Und auch die engen Datenverflechtungen zu den US-Geheimdiensten müssen dann dringend auf den Prüfstand.


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