Seit der Pandemie verzeichnen die Krankenkassen hohe Krankenstände. Hat sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung so verschlechtert? Eine Untersuchung findet Erklärungen.
Das Coronavirus ist nicht mehr das, was es mal war – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Eine Infektion wird nur noch selten als Bedrohung wahrgenommen. Der Umgang mit dem Virus ist zur Routine geworden. Und die sieht kaum anders aus als bei anderen Atemwegsinfekten. Eins ist dennoch auffällig: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer melden sich seit der Corona-Pandemie weitaus häufiger und länger krank als zuvor. Und obwohl die Pandemie durchgestanden scheint, hat sich dieser Trend bislang nicht umgekehrt.
Laut einer Auswertung des Statistischen Bundesamts haben sich im Jahr 2023 durchschnittlich 6,1 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer krankgemeldet. Im Schnitt fielen die Beschäftigten in diesem Jahr für 15,1 Tage aus. Das ist ein neuer Höchststand, wobei sich der generelle Aufwärtstrend schon seit 2007 abzeichnet und zuletzt in der Corona-Zeit einen scharfen Knick nach oben aufweist. In konjunkturellen Schwächephasen hingegen gehen Krankmeldungen tendenziell zurück, wie die Entwicklung von 1991 bis zum ersten Jahr der Finanzkrise 2007 zeige, heißt es bei Destatis.
Aktuellen Krankenkassendaten zufolge zeichnet sich auch für 2024 erneut ein hoher Krankenstand ab. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber macht die Entwicklung zunehmend nervös – und zum Teil auch misstrauisch. Im Teslawerk in Grünheide etwa haben sich Führungskräfte im Sommer sogar zu Kontrollbesuchen bei den krankgemeldeten Mitarbeitenden aufgemacht. Doch auch Ökonominnen und Ökonomen sehen die Entwicklung zunehmend mit Sorge. Schließlich können sich die anhaltend hohen Arbeitsausfälle durchaus negativ auf die deutsche Wirtschaftsleistung auswirken.
Studie geht auf Mythos vom faulen Mitarbeiter ein
Die Frage liegt auf der Hand: Ist die arbeitende Bevölkerung in Deutschland tatsächlich kränker als vor der Pandemie? Oder gibt es andere Faktoren, die den Krankenstand nach oben treiben? Genau das hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung genauer untersucht - und einige überraschende Antworten gefunden.
So hat einer der Hauptgründe für den Anstieg weder mit dem gesundheitlichen Zustand noch der Arbeitsplatzsituation der Betroffenen zu tun, sondern mit der Statistik selbst: Denn erst seit 2022 werden die Krankmeldungen digital erfasst und automatisch an die Krankenkassen weitergeleitet. Dadurch bilde die heutige Statistik die tatsächlichen Krankenstände schlicht realistischer ab als früher, heißt es bei der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung.
Für ihre Untersuchung haben die Forscherinnen unter anderem Daten von verschiedenen Krankenkassen ausgewertet. Mit den Ergebnissen wollen sie offensichtlich das eine oder andere Vorurteil aus dem Weg räumen. "In manchen Medien wird angesichts höherer Fehlzeiten suggeriert, dass Beschäftigte bei Erkrankungen schneller zu Hause bleiben oder gar krankfeiern", kritisiert die wissenschaftliche Direktorin des WSI Bettina Kohlrausch. Die These etwa, dass sich Mitarbeitende in Zeiten des Fachkräftemangels weniger ins Zeug legen, weil sie keine Entlassung fürchten müssen, weist die Ökonomin als wenig hilfreich zurück. "Es mag Einzelfälle geben, aber als grundsätzliche Erklärungsansätze sind solche Verkürzungen gefährlich, weil sie den Blick auf die wirklich relevanten Ursachen verstellen", sagt sie.
Was die Zahl der Krankheitsausfälle wirklich in die Höhe treibt
Stattdessen machen die WSI-Expertinnen strukturelle Gründe in den Betrieben und sozio-demografische Umstände als entscheidende Einflussfaktoren aus. Vor allem belastende Arbeitsbedingungen, Personalmangel und fehlende Präventionsmaßnahmen tragen demnach dazu bei, dass Mitarbeitende öfter und länger ausfallen. Insbesondere der Schutz vor psychischer Überlastung komme in vielen Betrieben zu kurz, kritisiert die WSI-Gesundheitsexpertin Elke Ahlers. Die Beschäftigung von Eltern leide zudem nach wie vor unter fehlenden oder unregelmäßigen Betreuungsangeboten für die Kinder.
Hinzu kommt, dass mit dem demografischen Wandel auch die Belegschaft in vielen Betrieben im Schnitt älter wird. Und Fakt ist nun mal: Krankheitsbedingte Fehlzeiten nehmen mit steigendem Alter zu. "Zwar sind ältere Beschäftigte nicht unbedingt öfter, aber bedingt durch andere Krankheitsbilder länger krank", so das WSI-Papier. Laut den vorläufigen Daten des BBK-Dachverbands für 2024 etwa lag der Krankenstand in den Altersgruppen zwischen 25 und 44 Jahren im Schnitt bei etwa 4,5 Prozent. Unter den über 55-Jährigen hingegen waren es im gleichen Zeitraum mehr als 8,5 Prozent.
Natürlich spielen auch Corona-Infektionen und andere schwere Atemwegserkrankungen weiterhin eine zentrale Rolle bei den Krankenständen – gerade jetzt, zu Beginn der Erkältungszeit. Im Jahr 2022 wurden laut der AOK-Auswertung mehr als ein Viertel aller Krankschreibungen aufgrund von Corona, Erkältung, Grippe und Co ausgestellt. Aufgrund der vergleichsweise kurzen Erkrankungsdauer lag ihr Anteil am durchschnittlich ermittelten Krankenstand aber nur bei 17,5 Prozent. Als zweithäufigster Grund für Fehltage gelten Muskel-Skelett-Erkrankungen (17,4 Prozent), die aber nur knapp 12 Prozent der Fälle ausmachen. An dritter Stelle stehen psychische Erkrankungen, die für 10,3 Prozent der Fehlzeiten verantwortlich sind.
STERN Tesla Arbeitsrecht Krankheit 15:36
Krank-zur-Arbeit ist ein aussterbendes Konzept
Anders als vor zehn oder zwanzig Jahren lassen sich Beschäftigte aber heutzutage nicht mehr so von gefühlten oder realen Anwesenheitszwängen beeindrucken, stellen die Arbeitsmarktexpertinnen des WSI fest. Damals habe die Forschung den Begriff "Präsentismus" geprägt für Beschäftigte, die krank zur Arbeit gingen, anstatt sich auszukurieren.
Schaut man sich an, welche Branchen besonders stark von hohen Krankenständen betroffen sind, stechen laut den WSI-Expertinnen vor allem die Pflegeberufe hervor. Zugleich geben die Beschäftigten in diesen Jobs besonders häufig an, krank zur Arbeit zu erscheinen. Die WSI-Forscherinnen sehen darin einen weiteren Beleg dafür, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen den Arbeitsbedingungen und hohen Fehlzeiten durch Krankheit gibt. Schließlich sind die Pflegeberufe geradezu berühmt-berüchtigt für die hohe Arbeitsbelastung und einen eklatanten Personalmangel.
Statt also die Ursache für die massenhaften Krankheitsausfälle bei den Mitarbeitern zu suchen, sollten sich Unternehmen stärker mit ihren eigenen Strukturen und Prozessen beschäftigen, beschließen die Expertinnen ihre Analyse. Letztendlich liege es in der Verantwortung der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, den hohen Fehlzeiten entgegenzuwirken – und zwar am besten, indem sie gute und faire Arbeitsbedingungen schaffen.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst bei ntv.de, das wie der stern zu RTL Deutschland gehört.