Für ukrainische Truppen scheint sich die Lage im Osten des Landes erschwert zu haben. Moskaus Armee bedroht nicht nur die Oblast Donezk, sondern perspektivisch auch die Städte Dnipro und Saporischschja. Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk erkennt dennoch Schwächen in der russischen Kriegsführung.
ntv.de: Herr Melnyk, wie würden Sie die allgemeine militärische Situation für die Ukraine im Abwehrkrieg gegen Russland im Moment bezeichnen?
Oleksij Melnyk: Klar ist, dass die Ausgangslage kompliziert ist und die Lage gerade in der Region Donezk schwierig bleibt. Man muss sich aber die Situation im allgemeinen Kontext ansehen. Moskau ging es bei dieser Offensive sehr wohl darum, den Moment zu nutzen, um maximale Ergebnisse zu erzielen. Dabei gibt es zwei Aspekte, die am wichtigsten sind: Zum einen die längere Verzögerung der US-Hilfen an Kiew, die leider eine große Rolle gespielt haben - und zum anderen die Mobilisierungsprobleme, die es in der Ukraine gab und gibt. Deswegen hat Russland sehr viel auf die Karte gesetzt, seit Anfang Oktober 2023 quasi ununterbrochen anzugreifen. Wie lange der Kreml das noch durchziehen kann, ist eine offene Frage, zumal auch die veränderten Wetterbedingungen im Spätherbst sowie im Frühwinter an der Front einen nicht geringen Einfluss haben könnten.
Wie hat es aber Russland geschafft, tatsächlich seit nun mehr als einem Jahr fast ununterbrochen die Initiative zu behalten, ohne eine weitere offene Mobilisierung zu verkünden?
Das ist eben der Punkt. Wie gesagt, die Frontlage bleibt für die Ukraine trotz der Operation in der russischen Region Kursk kompliziert. Aber wir beobachten enorme russische Verluste bei den Menschen und bei der Technik - und wir sehen, dass die Gelder, mit denen um freiwillige Vertragssoldaten in Russland geworben wird, immer wieder steigen, und zwar selbst in den ärmeren Regionen. Dass Moskau nun zumindest in der Region Kursk Soldaten aus Nordkorea einsetzt, ist einerseits besorgniserregend, andererseits aber auch ein Zeichen dafür, dass nicht alles für den Kreml rosig läuft. Irgendwann sollte das Ganze für die Russen auch ein Ende haben - und ich würde es nicht völlig ausschließen, dass es ihnen darum geht, das Maximale vor den möglichen Verhandlungen zu erreichen. Diese sind allerdings an sich weiterhin nicht in Sicht.
Wie würden Sie in diesem Zusammenhang den Erfolg der ukrainischen Kursker Operation einschätzen?
Ich bin unverändert der Meinung, dass es eine richtige Entscheidung war, diese Operation zu beginnen. Ohne den Überraschungseffekt erreicht man in diesem Krieg nicht viel - und es war in dem Moment auch extrem wichtig, zu zeigen, dass die Ukrainer ebenfalls zur Offensive übergehen können. Natürlich geht es generell schlicht auch darum, so viel Druck auf Russland auszuüben, wie es nur möglich ist - und das funktioniert ohne die Übertragung der Kampfhandlungen auf das russische Staatsgebiet nicht. Und: Ich stimme der Behauptung nicht zu, dass die Kursker Offensive kein Erfolg war, weil Russland die Kräfte etwa aus dem Donbass nicht abgezogen hat. Klar hat sie auch für die Ukraine zur Erweiterung der Frontlänge geführt, aber immerhin setzte die russische Armee zumindest bis zur Ankunft der Nordkoreaner bis zu 50.000 Mann dort ein, die woanders hätten eingesetzt werden können.
Wie soll nun die ukrainische Strategie generell aussehen? Soll es Kiew zunächst einmal vor allem darum gehen, die russischen Kräfte auszuschöpfen und dabei nicht für jeden Ort in der Region Donezk um jeden Preis bis zur letzten Sekunde zu kämpfen?
Das ist nach jetzigem Stand alternativlos. Wie schon angedeutet: Dass Russland seit mehr als einem Jahr die grundsätzliche Initiative behält, ist mehr als besorgniserregend - und der Einsatz der nordkoreanischen Soldaten ist zwar auch das Zeichen von einigen russischen Problemen, für die Ukraine jedoch natürlich ein Problem. Doch unendlich kann es nicht weitergehen. Daher muss die ukrainische Armee die Russen weiterhin im Donbass ausschöpfen. Im nächsten Jahr könnte es - und ich blende hier die weltpolitische Lage etwa um die US-Präsidentschaftswahl bewusst aus - dann mit gestiegener Munitionsproduktion im Westen und mit neuen ausgebildeten Brigaden darum gehen, dass die Ukrainer Russlands Vormarsch zumindest eindeutig stoppen und vielleicht sogar für überraschende Offensiven sorgen. Das offensichtliche Problem dabei ist allerdings: Die Steigerung der Munitionsproduktion wird nicht den gleichen Effekt haben, den die gigantischen Munitionslieferungen aus Nordkorea für Russland haben. Hier kommen wir eigentlich zu dem Punkt, warum die Erlaubnis, das international anerkannte russische Staatsgebiet mit weitreichenderen westlichen Waffen anzugreifen, doch so wichtig ist. Den Ukrainern ist in den vergangenen Monaten der eine oder andere Schlag gegen recht wichtige russische Munitionsdepots weit hinter der Grenze gelungen, doch solche Angriffe sollten einen völlig anderen Maßstab erreichen, damit sich die Munitionsverfügbarkeit auf beiden Seiten zumindest stärker ausgleicht.
Sie sprachen am Anfang die Mobilisierungsprobleme der Ukraine an. Was ist eine größere Herausforderung für die ukrainische Armee: Mobilisierung oder Waffen- und Munitionsknappheit?
Das ist ein eher unfairer Vergleich, denn beides ist ungefähr gleich wichtig. Die Schwierigkeit bei der Mobilisierung neben der Tatsache, dass nicht jeder im Krieg sterben möchte, liegt unter anderem im Bereich der Versäumnisse im Einberufungssystem. Nicht nur hat es die Ukraine selbst seit Beginn des ursprünglichen Donbass-Krieges 2014 nicht geschafft, ein ordentliches Wehrregister auf die Beine zu stellen. Dies wurde auch in den ersten beiden Jahren des vollumfänglichen Krieges nicht getan. Hinzu kam die Auswechslung von allen Chefs der regionalen Einberufungszentren im Sommer 2023, die durch mehrere Korruptionsskandale begründet war, doch in Wirklichkeit vor allem für das zeitweise Stolpern des ganzen Systems sorgte. Die Verabschiedung der Mobilisierungsreform in diesem April, bei der es primär um die Schaffung eines adäquaten Wehrregisters ging, hat die Mobilisierungszahlen in der Ukraine deutlich verbessert. Von offiziellen Stellen war von bis zu 35.000 neuen Soldaten pro Monat die Rede. Zuletzt sind diese Zahlen bis auf etwa 20.000 gesunken. Es geht hier nicht darum, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen und dass die Situation katastrophal ist, zumal man weiterhin nur Männer einzieht, die älter als 25 Jahre sind. Aber irgendwann wird man die Diskussion darüber führen müssen, ob man das Mobilisierungsalter nicht weiter senkt. Es gibt gute Gründe dagegen, die im Westen oft missverstanden werden. Im demografischen Bereich gibt es in der Ukraine gerade in der Generation zwischen 18 und 25 Jahren ein großes Loch - und die oberste Priorität des Staates in diesem Krieg ist, dass die ukrainische Nation als solche überhaupt langfristig überlebt. Doch die Senkung des Alters ist irgendwann wohl unausweichlich, zumal gerade in der Infanterie jüngere Soldaten dringend gebraucht werden.
Sie sind ein ehemaliger Kampfpilot und haben Piloten ausgebildet. Was sagen Sie zum bisherigen Einsatz der Kampfjets F-16 in der Ukraine?
Es geht vorerst um eine sehr geringe Anzahl eingesetzter Maschinen - und während auch sie eine Verstärkung für die ukrainische Flugabwehr sind, ist es momentan schwierig, ein Urteil zu fällen. Klar ist nur: Der tragische Fall von Oleksij Men, einem der begabtesten ukrainischen Piloten, der bei der Abwehr eines großen russischen Luftangriffs starb, wobei die erste F-16-Maschine verloren ging, zeigt leider, dass verkürzte Ausbildungszeiten deutliche Probleme mit sich bringen. Das bedeutet jedoch nicht, dass man F-16 nicht so schnell wie möglich hätte einsetzen sollen - gerade mit Blick auf den kommenden Winter mit fast sicheren russischen Angriffen gegen die ukrainische Infrastruktur, die für die Ukraine jegliche Verstärkung der Flugabwehr goldwert macht.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der ursprünglich aus der Unterhaltungsbranche stammt und dessen Team eine große Expertise in Sachen PR attestiert wird, hat neulich den sogenannten "Siegesplan" vor dem eigenen Parlament präsentiert. In westlichen Medien war viel Skepsis mit Verweis auf anonyme Regierungsquellen der jeweiligen Staaten zu sehen, dass in diesem Plan nichts Neues drinsteht. Was ist Ihr Eindruck?
Man kann lange darüber diskutieren, ob der Begriff "Siegesplan" angebracht ist oder nicht. Ich bin kein Fan davon, es sind aber absolut legitime Wünsche an westliche Partner drin, die helfen sollten, Russland stärker unter Druck und irgendwann vielleicht auch ernsthaft an den Verhandlungstisch zu bringen. Die wichtigsten Aspekte sind ohnehin geheim - und es geht dabei fast sicher vor allem um die Auflistung der notwendigen Waffen. Etwas völlig Neues zu erfinden, erweist sich für mich ohnehin als nahezu unmöglich. Trotzdem gibt es Aspekte, die auch ich skeptisch gesehen habe. Es gibt beispielsweise den Punkt, den ich vor allem als eine Art Spielvorlage an Donald Trump sehe: dass die Ukrainer die Amerikaner auf den europäischen NATO-Stützpunkten nach dem Krieg ersetzen könnten. Ich finde, so was muss vorerst mit der eigenen Gesellschaft besprochen werden. Denn ganz grob gesagt, ist die US-Unterstützung für die Ukraine überlebenswichtig. Es ist aber auch nicht so, dass amerikanische Soldaten hier vor Ort sind und mit den Ukrainern kämpfen. Man darf auch darüber diskutieren, ob eine bloße Einladung für die Ukraine in die NATO ohne jegliche zusätzlichen Garantien in der Praxis eine gute Sache und nicht etwa schädlich ist. Der NATO-Beitritt, das steht außer Frage, ist die einzige wirksame Sicherheitsgarantie für Kiew, die es nur geben kann. Die eine Situation wäre, wenn es um eine sehr konkrete Einladung ginge, mit Sicherheitsgarantien für die Zwischenzeit von Staaten wie USA oder Großbritannien, die sich im Kern dem Artikel 5 ähneln könnten. Die andere Situation: die Ukraine bekäme eben die bloße Einladung mit offenem Datum und ohne feste Versprechen. Bei der zweiten Variante könnte man fragen, welche Motivation dann Wladimir Putin überhaupt haben sollte, diesen Krieg einzustellen, wenn er noch - vielleicht die letzte - Möglichkeit hat, das Spiel umzudrehen und die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern.
Mit Oleksij Melnyk sprach Denis Trubetskoy