Der ukrainische Vorstoß nach Westrussland scheint Wirkung zu zeigen. Staatschef Selenskyj beschreibt die Ziele der Offensive - und sieht seine Truppen auf einem guten Weg.
Bei der Offensive ukrainischer Truppen in der westrussischen Region Kursk geht es nach Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj auch um eine nachhaltige Schwächung der feindlichen Armee. Die Verluste Russlands seien "sehr nützlich" für die Verteidigung der Ukraine, sagte er in seiner abendlichen Videoansprache. "Es geht um die Zerstörung der Logistik der russischen Armee und um den Verbrauch ihrer Reserven", erklärte Selenskyj. "Wir müssen allen russischen Stellungen maximalen Schaden zufügen, und das tun wir auch."
Die "Washington Post" berichtete von einem weiteren Vorstoß der Ukraine auf russisches Gebiet, und zwar in Richtung Belgorod. Dort seien die russischen Einheiten jedoch nach den Ereignissen in der Region Kursk schon in Bereitschaft gewesen, der ukrainische Angriff habe sich bereits im Grenzgebiet festgefahren.
Oberkommandeur Olexander Syrskyj erklärte, die ukrainischen Truppen seien bei Kursk weitere ein bis drei Kilometer vorgerückt. "Die Kämpfe gehen entlang der gesamten Frontlinie weiter", sagte er in einem am Abend verbreiteten Videoausschnitt. "Im Allgemeinen ist die Lage unter Kontrolle."
Syrskyj habe ihm auch Bericht über die Lage an anderen Frontabschnitten erstattet, sagte Selenskyj. Dabei sei es vor allem um die Abschnitte bei Pokrowsk und Torezk am Rande des von Russland besetzten Donbass im Osten der Ukraine gegangen. Details nannte Selenskyj nicht.
Der Generalstab in Kiew berichtete von 23 Angriffen russischer Truppen bei Pokrowsk. "Die Verteidiger haben 17 Angriffe abgewehrt, weitere sechs Gefechte dauern noch an", hieß es am Abend. Bei Torezk seien acht russische Angriffe abgeschlagen worden. Während der Kämpfe habe die russische Luftwaffe sowohl Torezk als auch die kleineren Orte Nju Jork (New York) und Nelipiwka bombardiert. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Russland führt seit zweieinhalb Jahren einen unerbittlichen Angriffskrieg gegen die Ukraine und hat größere Gebiete im Osten des Nachbarlandes erobert. Um weitere Eroberungen möglichst zu verhindern, hat das ukrainische Militär eine Gegenoffensive in die westrussische Region Kursk hinein gestartet. Damit soll möglicherweise auch die Verhandlungsposition bei eventuellen Gesprächen zwischen Moskau und Kiew verbessert werden.
Botschafter Lambsdorff: Moskau nicht verhandlungsbereit
Der deutsche Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, sieht derzeit keine Chancen auf Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg. "Im Moment lässt die russische Seite keine Verhandlungsbereitschaft erkennen, sondern pocht auf weit überzogene Vorbedingungen", sagte Lambsdorff, der seit rund einem Jahr Botschafter ist, in einem Interview des "Bonner General-Anzeigers".
Wenn der russische Präsident Wladimir Putin erkläre, er sei nur zu Gesprächen mit der ukrainischen Seite bereit, wenn diese sich zuvor vollständig aus allen Gebieten zurückziehe, die Russland seiner Meinung nach bereits annektiert habe - also auch aus den Teilen, die Russland gar nicht militärisch kontrolliere -, "dann ist ja klar, dass da keine Ernsthaftigkeit hinter steht", sagte Lambsdorff.
Die Arbeit der deutschen Botschaft in Moskau sei darauf ausgerichtet, präsent zu sein, um tätig werden zu können, falls sich die Haltung Moskaus ändern sollte. "Denn eines Tages muss auch Russland erkennen, dass es mit diesem Krieg deutlich weniger erreicht, als es sich zu Beginn vorgenommen hat, dass es sich international schweren Schaden zufügt und dass es sich in einer Kriegswirtschaft befindet, die völlig überhitzt ist und nicht durchzuhalten sein wird."
Ukrainischer Vorstoß nach Kursk "böse Überraschung" für Russland
Der ukrainische Vorstoß in das russische Gebiet Kursk mit Bodentruppen habe Russland nervös gemacht, sagte Lambsdorff. Für die Grenzschutztruppen, den Geheimdienst, das Militär, die Zivilverteidigung und auch die Bevölkerung sei es eine böse Überraschung gewesen, dass den ukrainischen Truppen eine derartige Aktion gelingen konnte.
Leiter von Rekrutierungszentren festgesetzt
In der Ukraine sind indes die Leiter von zwei Rekrutierungszentren in der Nähe von Kiew wegen Annahme von Schmiergeldern für die Freistellung von Wehrpflichtigen festgesetzt worden. Die "Ukrajinska Prawda" berichtete, bei der Durchsuchung von Büros und Wohnungen in den Vororten Butscha und Boryspil seien Geldpakete entdeckt und beschlagnahmt worden. Die Leiter der Rekrutierungszentren und ihre Komplizen sollen insgesamt rund eine Million Dollar (umgerechnet etwa 900.000 Euro) für ihre Dienste kassiert haben.
Nach den bisherigen Ermittlungen sorgten die Leiter für gefälschte medizinische Gutachten, mit denen junge Männer für wehrunfähig erklärt und von der weiteren Registrierung ausgeschlossen wurden. Zunächst seien 20 Personen identifiziert worden, die versucht hätten, sich auf diese Weise vom Kriegsdienst befreien zu lassen.
Junge Ukrainer versuchen aus verschiedensten Gründen und auf verschiedenste Weise, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Vielfach versuchen sie einfach, sich über die grüne Grenze in Nachbarländer abzusetzen. Wegen der verschärften Kontrollen suchen inzwischen Schleuserbanden immer neue Wege, flüchtige Wehrpflichtige für hohe Summen ins Ausland - meist nach Rumänien - zu bringen.
Auch viele Russen entziehen sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland. Seit Kriegsbeginn haben bereits zehntausende Männer Russland verlassen und sich unter anderem in benachbarten Ex-Sowjetrepubliken niedergelassen.