Putin bemüht sich, den ukrainischen Vormarsch Richtung Kursk zu stoppen. Doch noch wächst das von der Ukraine eroberte Gebiet. Die nächsten Tage sind entscheidend.
Am 6. August sind die ukrainischen Streitkräfte überraschend in das Gebiet Russlands in Richtung der Großstadt Kursk vorgedrungen. Kleine, mobile Gruppen stießen weit vor – ganz anders als bei den bisherigen Vorstößen der Ukraine im Raum Belgorod.
Politisch betrachtet war dieser Vorstoß ein Erfolg Kiews. Putin wurde gedemütigt, die Verwüstungen des Krieges nach Russland getragen und die russische Armee blamiert. Sie hatte weder die Konzentration an ukrainischen Truppen bemerkt noch die Grenzregion nennenswert befestigt. Die dort eingesetzten russischen Soldaten konnten den ukrainischen Ansturm nicht aufhalten, der durch die weiten Lücken zwischen den russischen Stützpunkten möglich wurde.
Lage im Kursk-Gebiet IV Reisner 15:07
Zweite Phase der Kursk-Operation
Nach dieser ersten Phase begannen die Russen Verstärkungen heranzuziehen, um den ukrainischen Einbruch abzuriegeln. Und auch hier gelang Kiew ein überraschender Erfolg, an dem wiederum russischer Schlendrian schuld war. Ein Verstärkungskonvoi postete Bilder seiner Fahrt ins Frontgebiet. Aufgrund der wenigen infrage kommenden Straßen war es ein Leichtes, die Route zu bestimmen. Als der Konvoi dann auch noch dicht gedrängt anhielt, schlugen die Ukrainer zu. Über zwölf Lkws gingen in Flammen auf.
Aber auch die Russen bekämpfen die Ukrainer. Die zuerst eingesetzten kleinen Kommandogruppen, die sich in Häusern versteckten, waren schwer auszumachen. Das gilt für die nachrückenden Truppen nicht. Um den Vormarsch aufzuhalten, setzten die Russen ihre weitreichenden Iskander-Raketen auch gegen wenig hochrangige Ziele ein.
Die russischen Verstärkungen konnten den ukrainischen Vormarsch Richtung Kursk tiefer ins russische Gebiet zumindest zeitweise blockieren. Inzwischen haben auch die Ukrainer weitere Verbände in den Einbruchsraum gebracht. Nun muss sich zeigen, ob diese Truppen die russischen Sperrstellungen überwinden können, oder nicht. Die ukrainische Offensive hat sich bislang jedenfalls nicht "festgefressen".
Heftige Kämpfe um Kleinstadt
Im Zentrum der Kämpfe steht die Kleinstadt Sudscha am nordöstlichen Rand des Einbruchs. Hier zeigt sich der andere Charakter der Kämpfe in der Kursk Region. Die Donbass-Zone ist komplett befestigt, die einzelnen Positionen decken sich gegenseitig. Ein überraschender Vorstoß gelingt nur in Ausnahmesituationen. Um Sudscha herum gab und gibt es freie Zonen, die ein bewegliches Gefecht ermöglichen. Die dortige russische Besatzung hielt im Ostteil des Städtchens stand, auch als sie abgeschnitten war. Inzwischen haben die Russen Verstärkungen herbeigebracht und die Ukrainer haben das Zentrum der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Die Russen klammern sich an den östlichen Teil. Sie konnten die Situation zumindest vorübergehend stabilisieren. Die Ukrainer versuchen nun, die Russen an den Flanken zu umfassen. Gut möglich, dass sie die ganze Stadt erobern werden.
Auch nördlich der Stadt konnten die Ukrainer 40 Kilometer weiter vorrücken. Im Raum zwischen Levshinka und Sheptukhovka haben die Russen ukrainische Positionen und Panzer mit Fernwaffen angegriffen. Das gleiche Bild weiter östlich bei dem Ort Zhuravli.
Den Ukrainern gelingt es also, das von ihnen eroberte Gebiet auszudehnen. Unbekannt ist, ob sie die Dörfer auch halten können, jetzt wo russische Truppen eintreffen. Kiew versucht auch an anderen Stellen der Front anzugreifen, um den Einbruchszipfel an den Seiten zu verstärken. Das Überraschungsmoment ist allerdings dahin.
Die Frontverläufe und Gefechte sind dynamisch, die Region ist nicht durchgängig von Truppen besetzt. In den nächsten Tagen sind weiterhin große Frontverschiebungen möglich und zu erwarten – solange es gelingt, neue Truppen in den Kampf zu bringen. Kiew soll auch die Erlaubnis erhalten haben, westliche Fernwaffen wie die Storm Shadow in Russland einsetzen zu dürfen. Auch das sollte die Kiewer Offensive beflügeln und die russischen Bemühungen, die Krise zu meistern, behindern.
Interview Kursk Nico Lange 9.15
Wozu dient die Kursk-Offensive?
Nach den ersten Tagen voller Euphorie wurde allerdings die Stimmung gedämpft. Trotz des Überrumpelungserfolges bleiben die grundsätzlichen Probleme der ukrainischen Streitkräfte bestehen. Russland hat mehr Soldaten, mehr Panzer, mehr Artillerie und dazu kommen die Gleitbomben. In der Konsequenz heißt das: Die Russen werden im Raum Kursk von Tag zu Tag stärker. Die Ukrainer können dagegen nur in einem begrenzten Maße und eine begrenzte Zeit frische Truppen zuführen, um die Offensive weiter zu nähren. Von außen ist ein Gelingen oder ein Misserfolg der Ukrainer schwer zu beurteilen, weil das Ziel der Operation nicht bekannt ist. Bei der missglückten Sommeroffensive 2023 war das anders. Hier war das Ziel klar. Die Ukrainer wollten bis zum Meer durchbrechen und so die von Russland besetzten Gebiete in zwei Zonen aufspalten.
Ziele, wie die Einnahme der Großstadt Kursk oder gar ein weiteres Vorgehen Richtung Moskau sind angesichts der begrenzten Truppen vollkommen ausgeschlossen. Es gibt die Vermutung, dass Kiew das bei Kursk gelegene Kernkraftwerk besetzen will. Damit hätte der Einbruch eine „feste Schulter“, da Russland die Zone um das Kraftwerk nicht mit schweren Waffen eingreifen kann. Das Werk und die eroberte Zone könnten bei möglichen Verhandlungen ein wichtiges Faustpfand sein. Von der hart umkämpften Stadt Sudscha sind es aber noch etwa 70 Kilometer bis zum Kraftwerk, die ukrainischen Spitzen sind allerdings deutlich näher.
FAQ zu Ukraine-Vorstoß nach Russland 18.35
Wie geht es weiter
Welche Optionen gibt es? Die für Kiew beste Möglichkeit wäre es, die russischen Sperren zu überwinden und weiter ins Landesinnere vorzudringen. Und somit den ersten russischen Eindämmungsversuch aufzusprengen. Dann stellt sich das Problem, dass eine immer größere eroberte Zone auch mehr Truppen benötigt, um sie zu halten. Weniger glänzend wäre es, wenn die Russen den Vormarsch im Wesentlichen stoppen. Dann muss Kiew in der besetzten Zone in die Verteidigung übergehen. Angeblich werden bereits Stellungen dazu ausgehoben.
Im besten Fall können die Ukrainer die eroberten Gebiete zäh verteidigen, so dass es Putin Monate kostet, die Grenze wiederherzustellen. Doch ein Sieg sieht anders aus. Mit dem Übergang in die Verteidigung verliert die Ukraine die Initiative, die geht dann an das russische Militär über. Welches dann vermutlich auf eine langsame und systematische Zermürbung setzen wird. Das Drama im Donbass würde sich bei Kursk wiederholen. Die dritte Option wäre die schnelle Räumung des eroberten Gebietes. Dann würde Kiew die politischen Meriten des Überraschungserfolges einstreichen und ein verlustreiches Rückzugsgefecht vermeiden.
Worst-Case im Donbass
Auch wenn die Welt sich vor allem für die Kursk-Offensive interessiert, überschattet die Lage im Osten die Erfolge bei Kursk. Hier kann Kiew die Front nicht halten. In kleinen Schritten aber unaufhörlich gehen Positionen verloren und es ist derzeit nicht zu erkennen, wie dieser Prozess gestoppt werden kann. Die bei Kursk eingesetzten Truppen fehlen hier schmerzlich. Und so sähe der Worst Case für die freie Ukraine aus: Den Russen gelingt es, den Kurskzipfel zunächst einzuschließen und die Ukrainer mit dem Einsatz ihrer Feuerkraft auf die Grenze zurückzudrängen. Gleichzeitig durchbrechen sie die letzten schwer befestigten Verteidigungslinien im Donbass.