Einen aggressiven Krebs überleben nur wenige Menschen. Was haben diese Patienten gemeinsam? Charité und TU München wollen es in einer internationalen Studie herausfinden.
In den Labors der Berliner Charité liegt ein Schatz: kleine Stückchen aus Lungengewebe, eingegossen in wachsartige Paraffinblöcke. Die Gewebeproben stammen von besonderen Patientinnen und Patienten. Sie haben einen aggressiven Lungenkrebs mehrere Jahre lang überlebt, genauer gesagt: ein kleinzelliges Bronchialkarzinom in fortgeschrittenen Zustand, mit Metastasen. Manche von diesen Menschen leben bis heute. Die Frage ist nur: warum gerade sie?
Denn wer an dieser Form von Lungenkrebs leidet, hat eine der schlechtesten Prognosen unter Tumorpatienten. Jedes Jahr bekommen etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland eine Krebsdiagnose. Etwa die Hälfte von ihnen lebt nach fünf Jahren noch, gemittelt über alle Tumor-Arten. Doch beim metastasierten kleinzelligen Lungenkrebs ist es nur etwa ein Prozent – trotz intensiver Therapie.
Ähnlich schwierig sieht es bei zwei weiteren Tumoren aus: Als schwer behandelbar gelten auch metastasierter Bauchspeicheldrüsenkrebs oder das Glioblastom, ein schnell wachsender Hirntumor. Bei diesen drei Krebsarten sind nach fünf Jahren in der Regel nur noch wenige der Kranken am Leben.
Was haben Krebs-Überlebende gemeinsam?
Was haben diese unwahrscheinlichen Überlebenden oder "Super Survivor", gemeinsam? Mediziner wollen von ihnen lernen, um bessere Therapien gegen aggressive Krebsarten zu entwickeln. Helfen soll dabei die groß angelegte internationale Rosalind-Studie, benannt nach der britischen Biochemikerin Rosalind Franklin, die die Grundlagen für die Entschlüsselung der Erbsubstanz DNA schuf.
Die neue Studie soll ebenfalls etwas entschlüsseln, nämlich typische Merkmale der Zellen von Krebsüberlebenden. Seit 2023 haben sich dazu mehr als 150 Forschungsinstitute in aller Welt zu einem Forschungsnetzwerk zusammengeschlossen, darunter führende Krebszentren in Frankreich, Großbritannien, Spanien – und neuerdings auch in Deutschland.
Die Technische Universität München wird federführend die Daten von Menschen mit Bauchspeicheldrüsenkarzinom betreuen, und als einer der größten Partner im Netzwerk ist seit dieser Woche die Berliner Charité an Bord. In Berlin wird man vor allem Patientendaten zum kleinzelligen Lungenkrebs analysieren und holt dafür nun die Paraffinblöcke mit Lungengewebeproben aus den Archiven.
"Wir wollen etwa 50 bis 60 Patientinnen und Patienten in die Rosalind-Studie einbringen, deren Gewebeproben dann bis auf die Ebene der einzelnen Zellen analysiert werden", erklärt Ulrich Keilholz, Professor für Comprehensive Oncology, also umfassende, interdisziplinäre Krebstherapie, und Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center.
Analysen von mehr als 1000 Krebs-Patienten weltweit
Weltweit sollen in die Rosalind-Studie molekulare Analysen von mehr als 1000 Krebsüberlebenden einfließen. Dabei werden riesige Datenmengen anfallen, denn analysiert wird erst mal in die Breite, um kein relevantes Merkmal zu übersehen: Besitzen ihre Zellen besondere Genmutationen oder sind bei ihnen spezielle Gene ein- oder ausgeschaltet? Produziert ihr Gewebe vielleicht bestimmte Erbgutschnipsel oder Proteine, die einen Überlebensvorteil bedingen?
Organisiert wird die Rosalind-Studie von dem in Paris ansässigen Tech-Unternehmen Cure51, spezialisiert auf die Analyse großer Datensätze aus Biologie und Medizin. Ziel ist es, eine Datenbank mit Merkmalen von Krebs-Überlebenden aufzubauen: "Die Daten, die wir von onkologischen Zentren wie der Charité bekommen, umfassen die Krankengeschichte, Therapieprotokolle, biologische Proben und archivierte Tumorgewebe", erklärt Simon Istolainen, der Cure51 zusammen mit Nicolas Wolikow gegründet hat.
Bei der Zellanalyse verfolgt das Unternehmen einen "Multi-Omics"-Ansatz, bei dem verschiedene biochemische Ebenen in einer Zelle untersucht werden, die alle auf "om" enden: das Genom etwa, also das Erbgut, oder das Proteom, die Gesamtheit der Proteine einer Zelle. Durchsucht und aufbereitet wird das Material mit Hilfe künstlicher Intelligenz und Modellierungen. "Das erlaubt uns, die gemeinsamen Tumor-Biomarker, Immun-Antworten und andere Merkmale der Tumor-Mikroumwelt zu identifizieren, die erklären könnten, warum diese Patienten überlebt haben", so Istolainen.
Dabei geht es ausdrücklich nicht nur um Krebszellen, erklärt Ulrich Keilholz von der Charité: "Krebs besteht nicht nur aus Tumorzellen, sondern auch aus gesunden Körperzellen. Wenn wir besser verstehen, wie die Tumorzellen mit diesen Körperzellen interagieren, können wir auch genauer verstehen, warum Tumore überhaupt wachsen können."
Diese Kommunikation unter Zellen könnte ein Schlüsselfaktor für die künftige Behandlung von Lungenkrebs sein: "Wir gehen im Moment davon aus, dass Langzeitüberlebende nicht genetisch völlig anders sind, sondern dass ihre Körperzellen anders mit den Tumorzellen kommunizieren. Das wäre zum Beispiel ein Ansatz für eine Therapie: die Interaktion zwischen Tumorzellen und Körperzellen vielleicht mit einem Medikament so zu gestalten, dass auch andere Patientinnen und Patienten davon profitieren können."
Experte für Krebs und umfassende interdisziplinäre Therapien: Prof. Ulrich Keilholz ist Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center in Berlin
© Isabelle Knispel
Bisher entzieht sich der kleinzellige Lungenkrebs sehr effizient der Behandlung, indem er nach einer Chemotherapie zunächst scheinbar verschwindet – aber dann umso stärker zurückkehrt: "Kleinzellige Bronchialkarzinome wachsen sehr schnell und sprechen erst einmal sehr gut auf klassische Chemotherapie an. Aber innerhalb von 6 bis 24 Monaten sind sie fast alle wieder da, bilden Metastasen und sind dann praktisch therapieresistent. Selbst moderne Immuntherapien haben daran noch nichts Grundsätzliches geändert", sagt Ulrich Keilholz.
Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sind schwer zu behandeln
Ähnlich schwierig ist die Behandlung beim fortgeschrittenen Bauchspeicheldrüsenkrebs oder Pankreaskarzinom. Allerdings sind die Gründe hier andere, erklärt Maximilian Reichert, Professor und Leiter des Zentrums für Translationale Pankreaskarzinomforschung an der TU München, der mit seinem Team ebenfalls an der Rosalind-Studie beteiligt ist: "Von den Patienten und Patientinnen mit Metastasen lebt nach fünf Jahren nur noch etwa ein Prozent. Damit nimmt das Pankreaskarzinom im Vergleich zu anderen Krebsarten den letzten Platz ein", erklärt Reichert.
Ein Grund dafür ist, dass das Pankreaskarzinom oft erst sehr spät entdeckt wird: "Das ist ein Krebs, der weitgehend unbemerkt entsteht. Oft macht der Tumor überhaupt keine Symptome, keine Schmerzen, nichts. Die Patienten kommen dann schon voller Metastasen in unsere Klinik, und wir können ihnen häufig nur noch sehr wenige und sehr toxische Chemotherapien anbieten", sagt Reichert. Interessanterweise gebe es selbst unter diesen Patienten noch einige Fälle, die mehr als fünf Jahre überleben, so Reichert. "Aber das sind die absoluten Ausnahmen und deswegen ist das Konzept der Rosalind-Studie für uns so interessant."
Erforscht aggressiven Krebs: Prof. Maximilian Reichert von der Technischen Universität München ist Experte für Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom).
© Sylvia Willax TUM University Hospital
Beim Pankreaskarzinom scheint das besonders findige Immunsystem der "Survivor" Teil der Antwort zu sein: "Eine Tumorzelle produziert Antigene, das sind Moleküle, die von unseren Immunzellen erkannt werden, um die Krebszellen abzuräumen. Bei den meisten Tumoren wird diese Antigen-Produktion oder -Präsentation irgendwann unterdrückt, sodass das Immunsystem die Tumorzelle nicht mehr findet. Dann kann sich der Krebs im Körper unkontrolliert ausbreiten", sagt Maximilian Reichert. Tumorzellen haben sogar noch weitere Mechanismen entwickelt, um die Abwehrzellen des Körpers auszutricksen.
"Aber bei manchen Menschen schafft es das Immunsystem trotzdem immer wieder, die Tumorzellen aufzuspüren", so Reichert. Eine Idee wäre es daher, die hohe Immun-Fitness der Überlebenden zu imitieren und durch eine Therapie auch die Immunzellen anderer Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs zu stimulieren, damit sie stärker auf Tumorzellen anspringen – ein Ansatz, den in ähnlicher Form auch Immuntherapien oder Impfungen gegen Krebs verfolgen.
Wann die Rosalind-Studie konkrete Ergebnisse für neue Therapieansätze liefern wird, ist noch offen, ebenso, wie viel die Survivor-Daten dann zum Beispiel für Pharmaunternehmen oder externe Forschungsinstitute kosten werden. Eine der größten Hoffnungen ist, dass der Weg zu neuen Medikamenten nur wenige Jahre dauern könnte, nämlich falls sich herausstellt, dass man bereits zugelassene Arznei-Wirkstoffe zusätzlich gegen aggressive Tumore einsetzen könnte. Eine solche "Zweitverwertung" ließe sich viel schneller bewerkstelligen als die komplette Neuentwicklung von Arzneimitteln, die dann durch ein aufwändiges Zulassungsverfahren geschickt werden müssten.