Kanada plant harte Strafen für Hassrede im Internet. Es drohen theoretisch sogar Millionenstrafen und lebenslange Haft. Bestraft werden können auch Verbrechen, die man noch gar nicht begangen hat.
Hass und Hetze im Netz sind allgegenwärtig. Kanada will Online-Inhalte jetzt strenger regulieren und umfassende neue Sicherheitsregeln einführen. Die kanadische Regierung plant ein neues Gesetz, Online Harms Act oder Bill C-63 genannt. Damit will sie Missbrauch und Mobbing im Internet bekämpfen. Es drohen im Extremfall Millionenstrafen und lebenslange Haft.
Die Regierung hat sieben Kategorien von schädlichen Inhalten ausgemacht. Dazu gehören Beiträge, die Hass schüren, zu Gewalt und Terror anregen, die Kinder sexuell schikanieren oder solche, die zur Selbstverletzung ermutigen.
Die Regierung will mit dem Gesetz vorwiegend Kinder besser schützen. "Schäden, die wir online erleben, können in der realen Welt tragische, manchmal tödliche Folgen haben", hat Kanadas Justizminister und Generalstaatsanwalt Arif Virani in einer Pressekonferenz im Februar gesagt. "Wir haben zu Hause strenge Sicherheitsstandards für Dinge wie das Lego meines Sohnes. Doch es gibt keine für das gefährlichste Spielzeug - nicht nur bei mir zu Hause, sondern in jedem kanadischen Haushalt - der Bildschirm, der vor den Augen unserer Kinder steht."
In Kanada haben sich seit 2014 die Meldungen von Kinderpornografie und Sexualstraftaten gegen Kinder im Internet vervierfacht. Es gab in diesem Zeitraum knapp 61.500 Fälle.
Millionenstrafen für Online-Dienste
Die großen Online-Dienste sollen laut dem Entwurf die schädlichen Beiträge innerhalb von 24 Stunden löschen. Betroffen sind auch soziale Medien, Pornoseiten und Livestreaming-Anbieter. Private Nachrichtenplattformen wie Signal oder Whatsapp oder Spieleplattformen fallen nicht darunter.
Unternehmen, die sich nicht an die neuen Regeln halten, müssen hohe Geldstrafen befürchten: Bis zu zehn Millionen kanadische Dollar oder sechs Prozent des weltweiten Umsatzes drohen, je nachdem, welcher Betrag höher ist.
Auch in der EU werden große Online-Plattformen von einem neuen EU-Gesetz über digitale Dienste (DSA) dazu verpflichtet, gegen illegale Inhalte wie Hassrede und Hetze im Netz vorzugehen - wenn sie das nicht tun, drohen Geldbußen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes. Die Kommission kann außerdem Zwangsgelder in Höhe von bis zu fünf Prozent des durchschnittlichen weltweiten Tagesumsatzes verhängen - für jeden Tag, an dem der Konzern zugesagte Maßnahmen nicht umsetzt.
Hass soll eigenständiges Verbrechen werden
Eine neue Behörde namens "Digital Safety Commission" soll die neuen Maßnahmen in Kanada überwachen. Sie soll schnell und informell durchgreifen können und weitreichende Befugnisse bekommen, auch Geldstrafen darf sie verhängen. Sie soll Einblick in alle Datenbestände der Anbieter haben, auch in die Nutzerdaten.
Befürworter sagen, damit könne die Internetkriminalität schneller bekämpft werden, weil die Plattformen Inhalte schnell löschen müssen.
Die kanadische Regierung plant auch, das Strafgesetzbuch zu ändern. Zum ersten Mal soll Hass als eigenständiges Verbrechen eingeführt werden. Das soll es leichter machen, solche Straftaten zu verfolgen.
Doch was ist mit Hass und Hassverbrechen gemeint? "Der Oberste Gerichtshof hat dargelegt, dass es sich um die Verabscheuung und Verunglimpfung einer Person oder Gruppe handelt", stellt Justizminister Virani klar. Beleidigende Kommentare fielen demnach aber nicht darunter.
Lebenslang für Aufruf zu Völkermord
Für Hassverbrechen sollen in Zukunft höhere Strafen möglich sein: Wer Hass schürt oder Antisemitismus unterstützt, kann fünf statt bisher zwei Jahre ins Gefängnis kommen. Wer im Internet zu Völkermord aufruft, kann zumindest theoretisch lebenslang in Haft kommen, bisher lag das maximale Strafmaß bei fünf Jahren.
In Deutschland ist Hatespeech kein eigenständiges Verbrechen. Strafbar sind Hasskommentare trotzdem. Die Strafen sind aber viel niedriger als die, die Kanada plant: bis zu fünf Jahre Haft sind maximal für Volksverhetzung möglich.
Auch das kanadische Menschenrechtsgesetz will die Regierung ändern: Man soll sich dann bei der Menschenrechtskommission über Hassrede im Internet beschweren können. Für Täter können hohe Geldstrafen von maximal 50.000 US-Dollar verhängt werden.
"Gedankenverbrechen" unter Strafe?
Die Strafen für Hassreden sind auf heftigen Widerstand gestoßen. Kritiker halten das Gesetz für zu streng, die möglichen Haftstrafen für zu lang. Einige meinen, die Vorschläge überschreiten die Grenze zur Zensur - und sehen das Ende der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit kommen.
Gerade rechte und konservative Medien in den USA kritisieren Kanadas Idee. Strafen für Hassreden habe es in Kanada in der Vergangenheit schon einmal gegeben, seien 2014 aber abgeschafft worden, weil sie missbraucht worden seien, schreibt die konservative kanadische Zeitung National Post. Bis in die frühen 2000er-Jahre seien vorwiegend Neonazis und Rassisten betroffen gewesen - plötzlich seien aber auch Beschwerden zu den Themen Einwanderung oder gleichgeschlechtliche Ehe gekommen.
Viele vergleichen das Gesetz mit George Orwells Roman "1984", wie die bekannte kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood oder Tesla-Chef Elon Musk. In dem Buch bestraft die Geheimpolizei "Gedankenverbrechen", also Gedanken, die dem Staat nicht passen. Noch bevor sie handeln können, werden potenzielle Kriminelle verhaftet.
"Erwartetes Hassverbrechen verhindern"
Zwischen dem berühmten Roman und dem kanadischen Gesetz gibt es aber höchstens minimale Parallelen. Die kanadische Regierung will tatsächlich Hassverbrechen zuvorkommen: "Wir müssen in der Lage sein, ein erwartetes Hassverbrechen zu verhindern", so hat es Justizminister Virani formuliert: "Für jemanden, bei dem die begründete Wahrscheinlichkeit besteht, dass er ein Hassverbrechen in Bezug auf Völkermord begeht, kann eine Friedenskaution gestellt werden."
Im Gesetzentwurf heißt es: Ein Richter darf anordnen, dass eine Person sich anständig benehmen soll, eine sogenannte Friedenspflicht für ein Jahr einhalten soll - oder auch zwei Jahre, wenn der Angeklagte vorher wegen Hassdelikten verurteilt wurde. Dafür benötigt der Richter Beweise, dass diese Person eine Hasspropagandastraftat oder eine Hassverbrechenstraftat begehen wird.
Wenn sich die Person nicht an die Friedenspflicht hält oder ihr nicht zustimmen will, kann sie zu einer Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr verurteilt werden. Ein Verstoß wäre, wenn die Person zum Beispiel mit einer anderen Kontakt aufnimmt, obwohl sie das laut Anordnung nicht darf, den Wohnort verlässt, oder verbotenerweise Drogen, Alkohol oder Waffen nutzt.
Kanada ist längst nicht mehr Vorreiter mit seinem Plan gegen Hass im Netz: Auch die EU, Großbritannien und Australien haben schon Gesetze zur Überwachung von Online-Inhalten verabschiedet. Der kanadische Gesetzentwurf muss noch seinen Weg durch die Institutionen nehmen.
Die New York Times geht davon aus, dass das Gesetz beschlossen wird, in welcher Form auch immer: die Liberale Partei von Premierminister Justin Trudeau habe einen Deal mit einer Oppositionspartei gemacht, die die Regierung dabei unterstützen wird.
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