Nach den Eklats im ehemaligen KZ Buchenwald beklagt der Direktor der Gedenkstätte politische motivierte Vorwürfe und warnt Israel vor geschichtspolitischer Instrumentalisierung.
Das Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen NS-Konzentrationslagers Buchenwald wurde von mehreren Konflikten überschattet. Zuerst verschob die Gedenkstätte auf Druck der israelischen Botschaft die geplante Rede des jüdischen Philosophen Omri Boehm. Am Sonntag bezeichnete dann eine Rednerin während der offiziellen Gedenkveranstaltung auf dem ehemaligen KZ-Gelände das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen als "Genozid".
Jens-Christian Wagner stand als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora in beiden Fällen zwischen den Konfliktparteien. Der stern hat mit ihm darüber gesprochen.
Herr Professor Wagner, eine junge Frau hat während des Holocaust-Gedenkens in Buchenwald Israel des Genozids bezichtigt. Wie konnte das passieren?
Die Frau war Teilnehmerin eines Jugendprojekts des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Die Gedenkstätte hatte damit nur sehr indirekt zu tun.
Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora. Der Jenaer Geschichtsprofessor wehrt sich gegen die Vermischung von Israel-Kritik und Antisemitismus-Vorwürfen
© Karina Hessland
Sie wussten also nicht, was geplant war?
Uns wurde der Text der geplanten Erklärung vorab zur Kenntnis gegeben. Doch da war der letzte Teil mit dem angeblichen Genozid im Gazastreifen nicht dabei. Sonst hätten wir dem Auftritt nicht zugestimmt. Wir wurden an dieser Stelle getäuscht. Es war offenbar eine spontane Aktion der Frau. Das Komitee hat sich danach in aller Form bei uns entschuldigt.
Die junge Frau, eine Spanierin, sprach ja nicht nur von einem "Genozid" an den Palästinensern, sondern rief auch "¡No pasarán"…
… was erst recht völlig unentschuldbar ist. Sie hat auf Englisch gerufen: "Wir kämpfen gegen den Genozid in Palästina", gefolgt von dem Ruf "¡No pasarán". So lautete bekanntlich der Schlachtruf antifaschistischer Widerstandskämpfer im spanischen Bürgerkrieg. Es heißt grob übersetzt: "Sie kommen nicht durch!" Das war – an diesem Ort und an diesem Tag – ein antisemitischer Übergriff. Denn das kann ja nur als "Die Juden kommen nicht durch" gedeutet werden. Ich bin spontan ans Mikrofon gegangen und habe mich sehr deutlich im Namen der Gedenkstätte distanziert.
Die Frage, was antisemitisch ist und was nicht, hatte bereits vor der Veranstaltung zu einem politischen Eklat geführt: Sie mussten einen eingeplanten Redner wieder ausladen. Wie groß ist der Schaden?
Der Konflikt um die Rede von Omri Boehm hat diesen Jahrestag im Vorfeld überschattet. Das macht mich gerade mit Blick auf die letzten Überlebenden immer noch sehr traurig. Die Landesregierung und wir als Gedenkstätte hatten Herrn Boehm gemeinsam eingeladen, weil er als Deutsch-Israeli, als international renommierter Philosoph und als Enkel eines Holocaust-Überlebenden eine differenzierte und gleichzeitig authentische Perspektive bietet. Das Redemanuskript, das jetzt die "Süddeutsche Zeitung" veröffentlicht hat, zeigt sehr deutlich, dass die Vorwürfe gegen ihn an den Haaren herbeigezogen sind. Er hat einen klugen, sorgsam abgewogenen Text geschrieben – und sich sehr, sehr deutlich gegen jegliche Relativierung des Holocausts geäußert. So, wie es zu erwarten war.
Boehm hat Jerusalem als "goldenes Kalb" und Yad Vashem als "Waschmaschine" einer rassistischen Politik Israels bezeichnet. Der israelische Botschafter wirft ihm deshalb vor, das Holocaust-Gedenken zu verwässern. Hat er nicht recht?
Omri Boehm ist ein streitbarer, aber immer fundiert argumentierender Wissenschaftler. Dieser Vorwurf ist politisch motiviert. Überhaupt wird die gesamte Debatte um Israel und Palästina von allen Seiten derart erbittert geführt und instrumentalisiert, dass sie inzwischen völlig vergiftet ist. Es lässt sich kaum noch ein Satz dazu sagen, ohne dass man von der einen oder anderen Seite sofort unter Generalverdacht gestellt wird. Entweder gilt man als Unterstützer der Hamas und als Antisemit. Oder man wird als Speichellecker einer rechtsextremen Regierung Israels bezeichnet. Ich bin genauso wie Omri Boehm weder das eine noch das andere.
Welche Sätze würden Sie denn sagen?
Dass das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werden darf. Dass wir solidarisch mit den Menschen sind, die Opfer des Hamas-Massakers wurden und bis heute unter den Hamas-Angriffen in Israel leiden. Und dass es gleichzeitig richtig ist, wenn wir die unverhältnismäßige Kriegsführung durch eine in Teilen rechtsextreme Regierung kritisieren – ohne ahistorische und geschichtspolitisch den Holocaust relativierende Genozid-Analogien zu ziehen. Die Vergiftung der Debatte findet nicht nur im Rahmen des Krieges in Gaza statt, sondern auch im Kontext einer globalen Entwicklung. Autoritäre und rechtsextreme Regierungen setzen die liberalen Demokratien weltweit unter Druck. Und sie nutzen dabei die Geschichtspolitik als Waffe.
Beispiele?
Nehmen Sie Putins Propaganda, mit der er den Einmarsch in der Ukraine begründete. Nehmen Sie Trumps jüngsten Erlass, sogenannte unamerikanische Inhalte aus Museen zu verbannen. Oder nehmen Sie Benjamin Netanjahu. Zuletzt lud die israelische Regierung die Crème de la Crème der Rechtsextremen aus Europa zu einer Antisemitismus-Konferenz nach Jerusalem. Darunter waren auch bekannte Holocaust-Verharmloser.
Hat der geschichtspolitische Kulturkampf auch damit zu tun, dass es kaum noch Überlebende des NS-Terrors gibt?
Das ist ein zentraler Punkt. Spätestens dann, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind, sind der Instrumentalisierung der NS-Verbrechen Tür und Tor geöffnet. Sie können sich ja dann gegen ihre Vereinnahmung nicht mehr wehren. Das ist eine Entwicklung, die wir schon seit einiger Zeit sehen und die sich verstärken wird.
Was tun?
Umso wichtiger ist es, dass wir aus den Gedenkstätten heraus eine wissenschaftlich basierte, seriöse und kritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen vorantreiben – und deutlich sagen, wenn von Dritten versucht wird, die Taten zu verharmlosen, zu verleugnen oder zu instrumentalisieren. Aber diese Arbeit wird immer schwerer.