Zentralrat der Juden: "Dann müssten wir jüdischen Bürgern die Ausreise empfehlen"

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Der Krieg in Gaza führt zu Angriffen auf Juden in Deutschland, die Stärke der AfD besorgt. Josef Schuster, Zentralratspräsident, über das bedrohte jüdische Leben im Land.

Herr Schuster, der Krieg in Gaza spaltet die deutsche Gesellschaft – und führt zu Angriffen auf Juden im Land. In dieser Woche geht der Prozess um die brutale, womöglich antisemitische Attacke auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira weiter. Welche Erwartung haben Sie?
Das Strafrecht muss generell eine abschreckende Wirkung für mögliche Nachahmer haben. Die Brutalität in diesem speziellen Fall duldet keine Nachsicht.

Ein Kommilitone hatte Shapira Anfang Februar 2024 das Gesicht zertrümmert. Shapiras Anwältin sprach damals von „propalästinensischer Hegemonie“ an den Unis. Wie sicher sind Juden an deutschen Unis?
Wir haben seit dem 7. Oktober 2023 unerträgliche Szenen an deutschen Hochschulen gesehen. Gerade in größeren Städten, vor allem in Berlin, aber auch im Ruhrgebiet oder in Frankfurt herrscht immer noch eine solch israelfeindliche Stimmung, dass jüdische Studierende und Lehrende Angst auf dem Campus haben. Wenn die Situation gerade nach so langer Zeit immer noch nicht unter Kontrolle ist, haben aus meiner Sicht die Universitätsleitungen versagt. Deren Aufgabe ist die Gewährleistung der Sicherheit aller Studierenden.

Josef Schuster: "Man kann als Gast nicht die Freiheiten des Landes missbrauchen"

In Berlin sollen vier Personen aus dem europäischen Ausland und den USA ausgewiesen werden, weil sie an der Besetzung der Freien Universität beteiligt waren. Damals wurden Äxte genutzt, Mitarbeiter bedroht, Hamas-Zeichen hinterlassen. Der richtige Weg?
Ich halte das Vorgehen für richtig und auch nachvollziehbar. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn jemand als Student nach Deutschland kommt und dann gewaltsam Unigebäude stürmt. Es kann nicht sein, dass man als Gast die Freiheiten des Landes missbraucht und wie in diesem Fall andere Menschen auch körperlich bedroht.

Die vier Personen sind nicht verurteilt. Das Verhalten der Berliner Behörden erinnere an Donald Trumps Vorgehen gegen US-Hochschulen, wird von Kritikern erklärt. Was entgegnen Sie?
Ganz ehrlich: Wer muss sich hier eigentlich erklären? Mir geht viel zu schnell vergessen, dass es bei dieser Diskussion um den Schutz jüdischer Studierender geht. Gerade die EU-Freizügigkeit ist ein hohes Gut, das ist klar, und wir brauchen eine rechtssichere Lösung. Wir sollten uns aber schon bewusst bleiben, worum es geht.

„Das Leid der Menschen in Gaza ist immens“, schrieben Sie vor einiger Zeit. Wie lässt sich Solidarität mit den Opfern in Deutschland zeigen?
Ich habe Mitleid mit der Zivilbevölkerung in Gaza. Damit das endet, muss die Hamas die Kontrolle verlieren und die Geiseln müssen freikommen. Man darf nicht vergessen: Die Hamas nutzt Kindergärten, Schulen und Moscheen ganz bewusst, um sich hinter der eigenen Bevölkerung zu verstecken. Sie haben diesen Krieg begonnen.

"Man kann die israelische Kriegsführung kritisieren, ohne sich gegen Juden zu richten"

Wo endet legitime Kritik an diesem Militäreinsatz für Sie?
Es gibt viele pro-palästinensische Demonstrationen hier im Land. Das ist in Ordnung. Aber ich finde es unerträglich, wenn Juden in Deutschland wegen einem Konflikt im Nahen Osten bedroht werden. Die Verbundenheit mit Israel ist ein Teil jüdischer Identität – auch der deutschen Juden, das steht außer Frage. Man kann natürlich die israelische Kriegsführung kritisieren, ohne sich gegen Juden zu richten. Doch wer Israel delegitimiert oder dämonisiert, der macht sich mit den Zielen der Hamas gemein.

Eine Gedenkstunde in einem ehemaligen Konzentrationslager ist aber gerade nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Regierungspolitik Israels.


Auch das Holocaustgedenken wird vom Krieg überschattet. Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm sollte bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald eine Rede halten. Die israelische Regierung protestierte, die Rede wurde abgesagt. Können Sie das verstehen?
Ich habe seine Einladung durch die Gedenkstätte nicht verstanden. Ich mag mit vielen Überzeugungen von Omri Boehm nicht übereinstimmen, aber man muss das aushalten. Eine Gedenkstunde in einem ehemaligen Konzentrationslager ist aber gerade nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Regierungspolitik Israels.



Es war an diesem Tag eine britische Schülerin, die Israel während ihrer Rede im ehemaligen Konzentrationslager, einen Genozid vorwarf. 
Das war völlig unangebracht. Diese Gleichsetzungen sind grotesk und gerade zu solch einem Anlass in Deutschland niveaulos. Mich bestürzt, dass man anscheinend glaubt, gerade hier damit gut anzukommen.

"Ein Besuch von Friedrich Merz in Israel wäre ein gutes Signal"

Der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz will den israelischen Ministerpräsidenten trotz internationalen Haftbefehls nach Deutschland einladen. Deutschland müsste Benjamin Netanjahu dann eigentlich verhaften. Ist diese Einladung klug? 
Friedrich Merz hat gesagt, es sei unvorstellbar, dass ein Repräsentant Israels nicht mehr in die EU einreisen könne. Dem stimme ich zu.

Sie haben den Strafbefehl gegen Benjamin Netanjahu Ende vergangenen Jahres selbst als Absurdität bezeichnet. 
Vieles an diesem Strafbefehl ist fragwürdig. Allein schon, ob es hier überhaupt eine Zuständigkeit gibt. Mir ist natürlich bewusst, dass diese Entscheidung dennoch für die Bundesregierung schwierig ist, da sie sich grundsätzlich an die Entscheidungen gebunden fühlt.

Was schlagen Sie vor?
Israel hat nicht nur einen Ministerpräsidenten. Der oberste Repräsentant des Staates ist der Staatspräsident. Jitzchak Herzog könnte schon bald nach Deutschland kommen. Auch ein Besuch von Friedrich Merz in Israel wäre ein gutes Signal.

Was erwarten Sie von der neuen Regierung zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland?
Es braucht vor allem den Willen, den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland durchzusetzen. Auch gegen Widerstände. Die geplante Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen geht hier ganz klar in die richtige Richtung, nur muss das auch in der Praxis umgesetzt werden. Gerade was Israel und israelbezogenen Antisemitismus  angeht, war das, was wir in den Papieren aus den Arbeitsgruppen gesehen haben ebenfalls klar. Umso enttäuschter war ich, dass das meiste im Koalitionsvertrag wieder abgeschichtet wurde und wir im Grunde bei altbekannten, unbestimmten Formulierungen angelangt sind.

Zentralratspräsident Schuster über sein Verhältnis zu Claudia Roth

Im Koalitionsvertrag heißt es, es solle sichergestellt werden, dass keine Organisationen und Projekte gefördert werden, in denen Antisemitismus verbreitet oder das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird. Wie soll das gelingen? Durch eine Prüfung durch den Verfassungsschutz?
Mich irritiert diese ganze Diskussion. Wer hat eigentlich etwas dagegen, dass Personen oder Organisationen, die vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft werden, nicht von deutschen Steuergeldern gefördert werden? Wenn wir uns darin in Deutschland nicht einig sind, haben wir wirklich ein großes Problem.

Besonders das Verhältnis zwischen Kulturstaatsministerin Claudia Roth von den Grünen und der jüdischen Gemeinschaft galt zuletzt als schwierig...
Dieses angespannte Verhältnis zu Claudia Roth ist erst in ihrem Amt entstanden. Wir kannten uns vorher und ich hatte immer den Eindruck, dass sie jemand ist, der jüdischen Leben in Deutschland sehr wertschätzt, schützt und auch fördern will. Ihre Amtsführung hat dies dann leider vermissen lassen.

Bei aller Meinungs- und Kunstfreiheit erwarte ich wieder mehr Rigorosität im Umgang mit Antisemitismus.

Sie haben sich irritiert gezeigt, etwa wegen antisemitischer Kunst auf der Documenta oder Roths Umgangs mit der Berlinale. 
Wir haben Frau Roth vor der Documenta in Kassel in einem Gespräch im Bundeskanzleramt klar vor möglichen antisemitischen Kunstwerken gewarnt. Das war drei Monate vor Beginn. Sie hat damals zugesichert, dass wir uns keine Sorgen machen müssten. Das Ergebnis kennen wir alle. Das hat mich zutiefst enttäuscht.

Was passiert, wenn die AfD stärkste Kraft wird?

Was muss ein neuer Kulturstaatsminister leisten?
Bei aller Meinungs- und Kunstfreiheit erwarte ich wieder mehr Rigorosität im Umgang mit Antisemitismus.



„Die Freiheit und Mäßigung unserer liberalen Demokratie sind die Grundvoraussetzungen für jüdisches Leben unserer Zeit", schreiben sie im Vorwort zu ihrem neuen Buch. Wie sehr bedroht sehen Sie beides?
Unsere Freiheit ist dauerhaft nur mit Mäßigung zu erhalten. In Deutschland traut man sich wieder Dinge zu sagen, die lange Zeit unsagbar schienen. Antisemitismus ist wieder zur Normalität geworden – ob von rechtsradikaler, islamistischer oder postkolonialer linksextremer Seite. Das irritiert mich zutiefst Es wird eine Radikalität salonfähig, die auf Dauer unser freiheitliches Zusammenleben zerstört. Deutschland hat die Verantwortung sicherzustellen, dass so etwas wie die Schoa nie wieder geschehen kann. Ich fürchte, das Verantwortungsgefühl dafür schwindet. Aktiv hintertrieben wird es etwa von Funktionären der AfD, die vom "Schuldkult" oder dem "Mahnmal der Schande" sprechen. 

Die Partei lag jüngst in einer ersten Umfrage sogar vor der CDU. Was würde es für Jüdinnen und Juden bedeuten, wenn in Deutschland eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei stärkste Kraft würde?
Je stärker eine Partei wie die AfD wird, desto mehr verlieren demokratische Werte an Bedeutung. Wenn solch eine Partei dann auf Bundesebene in Verantwortung kommen sollte, müsste man ernsthaft die Frage stellen, ob jüdisches Leben in Deutschland noch möglich ist. Wenn das mit Nein beantwortet werden würde, würde das auch bedeuten, dass der Zentralrat die Möglichkeit ins Auge fassen müsste, jüdischen Bürgern die Ausreise aus Deutschland zu empfehlen.