Die Nahost-Region steht vor einer weiteren gefährlichen Eskalation. Ein israelischer Angriff auf ein Schulgebäude in Gaza sorgt für Entsetzen. Die Armee äußert jedoch Zweifel an den hohen Totenzahlen.
Nach einem israelischen Luftangriff auf ein Schulgebäude in Gaza mit Dutzenden Toten gehen die Kämpfe in dem Küstenstreifen mit unverminderter Härte weiter. Einwohner der Stadt Chan Junis berichteten von israelischen Angriffen, nachdem die Armee Zivilisten dazu aufgerufen hatte, ein nördliches Stadtviertel unverzüglich zu verlassen. Israel wirft der islamistischen Terrororganisation Hamas vor, sie habe die humanitäre Zone in dem Gebiet für Raketenangriffe auf israelische Ortschaften missbraucht.
Chan Junis liegt im Süden des Gazastreifens. Nach Angaben des Generalkommissars des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, mussten allein in den letzten Tagen mehr als 75.000 Palästinenser im Südwesten des Küstengebiets vor Kämpfen flüchten.
Nahost-Diplomatie stemmt sich gegen Ausweitung des Krieges
Derweil laufen nach Medienberichten hinter den Kulissen Bemühungen, die explosive Lage in der ganzen Region durch diplomatische Anstrengungen zu entschärfen. Eine geplante Gesprächsrunde am Donnerstag in Kairo oder in Doha könnte dabei entscheidend werden.
Im Mittelpunkt stehen die seit Monaten feststeckenden indirekten Gespräche zwischen Israel und der Hamas, um ein Ende des seit zehn Monaten dauernden Gaza-Kriegs einzuleiten und die Freilassung von mehr als 100 Geiseln in der Gewalt der Hamas zu erreichen. Dabei vermitteln die USA, Ägypten und Katar.
Zehn Tage nach der Tötung zweier hochrangiger Feinde Israels in Teheran und Beirut ist weiterhin unklar, ob und wann der Iran und die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah die angedrohten massiven Vergeltungsschläge gegen Israel ausführen werden. Israels Streitkräfte sind seit Tagen in höchster Alarmbereitschaft. Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, brachten zusätzliche Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in die Region. Es herrscht aber eine gewisse Hoffnung, dass eine Waffenruhe im Gaza-Krieg eine allgemeine Beruhigung der Lage herbeiführen könnte.
Scholz spricht mit Netanjahu: für Deeskalation und Gaza-Waffenruhe
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte in einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu große Sorge über die Gefahr eines regionalen Flächenbrandes im Nahen Osten. Mit dem Ziel einer regionalen Deeskalation sei nun der Zeitpunkt gekommen, das Abkommen zur Freilassung der Geiseln und eines Waffenstillstands zu finalisieren, sagte Scholz nach Angaben eines Regierungssprechers in Berlin.
Die Gefahr eines Flächenbrandes in der Region droht, seitdem Ende Juli zwei führenden Köpfe der Hamas und der Hisbollah bei Angriffen getötet wurden. Der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, kam bei einer Explosion in einem Gästehaus der iranischen Regierung in Teheran ums Leben. Fuad Schukr, eine Art Militärchef der Hisbollah, war wenige Stunden zuvor durch einen Luftangriff in Beirut getötet worden. Seine gezielte Tötung reklamierte Israel für sich. Zum Mordanschlag auf Hanija äußerte es sich nicht.
Israel und seine Verbündeten gehen davon aus, bei einem Vergeltungsschlag eine große Zahl von Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen mit modernen Abwehrsystemen weitgehend abfangen zu können. Sollten dennoch viele Menschen getötet werden, könnte Israel seinerseits mit massiver Vergeltung reagieren. Dies wiederum könnte eine unkontrollierbare Eskalation und einen großen Nahost-Krieg auslösen, auch wenn dies keine der Seiten beabsichtigt.
Entsetzen über Angriff auf Schulgebäude - Israel: Totenzahlen übertrieben
Weiter angeheizt wurde die Lage durch einen israelischen Luftangriff auf ein Schulgebäude in Gaza am Samstag, bei dem nach Angaben des von der Hamas kontrollierten palästinensischen Zivilschutzes mindestens 93 Menschen getötet wurden. Das Gebäude wurde als Flüchtlingsunterkunft genutzt. Der Angriff sei in den frühen Morgenstunden erfolgt, als viele ihr Morgengebet verrichteten, berichteten Augenzeugen.
Das israelische Militär sprach allerdings von einer Kommandozentrale der Hamas, die sich in dem angegriffenen Objekt befunden habe. Dabei seien mindestens 19 Kommandeure und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad getötet worden. Die Luftwaffe habe kleinkalibrige Raketen verwendet, weshalb die Opferzahl gar nicht so hoch sein könne. Die Angaben keiner der Seiten ließen sich unabhängig bestätigen.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich entsetzt über den Angriff. "Mindestens zehn Schulen wurden in den vergangenen Wochen ins Visier genommen. Es gibt keine Rechtfertigung für diese Massaker", schrieb er auf der Plattform X. Die US-Regierung zeigte sich "zutiefst besorgt" über die Berichte zu zivilen Opfern.
Proteste gegen "Sesselkleber" Netanjahu
In Tel Aviv und anderen israelischen Städten demonstrierten indes Tausende Menschen für ein Abkommen, das zur Freilassung von 115 Geiseln führen soll. "Das ist unsere letzte Chance, um einen Deal zu erreichen, der Leben rettet", sagte die Mutter eines Entführten auf der Kundgebung in Tel Aviv. "Netanjahu setzt weiter das Leben der Geiseln aufs Spiel, um seinen Thron behalten zu können", zitierte sie die Zeitung "Haaretz".
Die Hamas und andere Gruppen aus dem Gazastreifen hatten am 7. Oktober vergangenen Jahres den Süden Israels überfallen, mehr als 1.200 Menschen getötet und weitere 250 als Geiseln verschleppt. Das beispiellose Massaker war Auslöser des Gaza-Kriegs.
Während einer kurzen Waffenruhe kamen mehr als 100 Geiseln frei, unter ihnen vor allem Frauen und ältere Menschen. Die Freigelassenen berichteten unter anderem von unmenschlichen Bedingungen, Entbehrungen, Gewalttätigkeiten und psychologischem Terror. Die Hamas hat nach israelischer Zählung noch 115 Geiseln in ihrer Gewalt, von denen Israel 41 für tot erklärt hat. Überdies dürften viele weitere Geiseln, deren Schicksal unbekannt ist, nicht mehr am Leben sein.