Selbst wenn der mutmaßliche Attentäter Issa al-H. den Behörden rechtzeitig ins Netz gegangen wäre: Nach Syrien hätte man ihn nicht abschieben können. Wie kann Deutschland mit Gefährdern umgehen? Und wie verhindern, dass der Druck auf die Gesellschaft zu groß wird? Migrationsforscher Raphael Bossong warnt vor falschen Versprechungen.
ntv.de: Herr Bossong, Issa al-H. war noch nie auffällig geworden, bevor er mutmaßlich drei Menschen umbrachte. Tut Deutschland, tut Europa genug, um die Auffälligen zu entdecken?
Raphael Bossong: Die Tat von Solingen ist furchtbar und darauf muss man reagieren. Sicherlich lässt sich einiges verbessern, vor allem im Informationsaustausch zwischen europäischen Staaten. Zum Beispiel hat die EU im Mai beschlossen, sogenannte Screening-Verfahren einzuführen an den Außengrenzen. Jeder Asylbewerber und irreguläre Zuwanderer soll dann bis zu eine Woche lang überprüft werden, mit Blick auf Sicherheit und Schutzbedürftigkeit. Ziel wäre, schon an den Außengrenzen, beispielsweise in Griechenland, mehr problematische oder gefährliche Personen zu entdecken und sie nach einem Schnellverfahren wieder abzuschieben. Allerdings ist die Umsetzung erst ab Sommer 2026 verpflichtend. Im Internet muss jetzt die Verfolgung von Islamismus besser werden. Das Problem ist schon lange eine Baustelle für die Sicherheitsbehörden, aber nochmal dringlicher geworden. Allen war bewusst, dass der 7. Oktober eine Terrorwelle auslösen könnte.
Nehmen wir mal an, die Mechanismen funktionieren. Der Verfassungsschutz sagt über einen Flüchtling: "Dieser Typ hat noch keine Straftat begangen, hat aber Kontakte zum IS und ist gefährlich." Kommt der Gefährder aus Syrien, darf er dennoch bleiben, weil dort noch immer Krieg herrscht und nicht abgeschoben wird. Gibt es rechtlichen Spielraum, um das anders zu handhaben?
Selbst gefährlichen Menschen und Extremisten, die wir eigentlich loswerden wollen, müssen wir minimale Rechte zugestehen. Wir können nicht sagen, sollen die doch bei Assad im Folterkeller landen oder die Taliban mit Ihnen machen, was sie wollen. Das ist nicht gutgläubig oder naiv, sondern schlicht Grundlage unserer Verfassung, auch über das Asylrecht hinaus. Wir haben aber Spielraum im bestehenden Rechtsrahmen. Wir können versuchen, einige Gefährder so abzuschieben, dass ihnen keine unmittelbare Lebensgefahr oder andere unmenschliche Behandlung droht.
Wie könnte sich das auswirken, wenn wir bei diesem Beispiel bleiben: Islamistische Gefährder aus Syrien und Afghanistan. Wie werden wir die los?
Ursprünglich war die Stoßrichtung: Wir reden gar nicht mit den Taliban in Afghanistan oder mit Baschar al-Assad, dem syrischen Diktator, die würden wir durch solche Gespräche nur aufwerten. Nach meinem Dafürhalten ist diese Haltung auch plausibel. Aber nun haben wir verstärkt die politische Forderung: Wir haben in Deutschland eine veränderte Sicherheitslage und die erfordert, dass wir uns mit solchen Regimen dennoch auseinandersetzen, womöglich punktuell kooperieren. Es gibt Staaten in Europa, Dänemark und Österreich gehören dazu, die fordern, dass gemeinsam eine andere Politik gegenüber Syrien entwickelt wird. Mehrere Staaten zusammen haben mehr Einfluss, können leichter einen Zugang bekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass Deutschland sich dieser Bewegung anschließt und sich dort in den kommenden zwei Jahren die Politik ändert.
Wie könnte die neue Stoßrichtung aussehen?
Denkbar ist ein Arrangement, um in Einzelfällen Menschen in bestimmte Teile Syriens zurückzuführen oder sich um eine Zusicherung des syrischen Regimes zu bemühen, dass die rückgeführten Personen menschenwürdig behandelt werden. Ob das glaubwürdig wäre, ist eine weitere Frage. Ich kann aus meiner Position keine belastbare Einschätzung zur aktuellen Sicherheitslage in Syrien abgeben, das müssen die verantwortlichen Stellen und Gerichte tun. Und danach muss sich auf die Politik richten. Ich sehe aber derzeit größere Baustellen im Bereich der Behörden.
Sie meinen im Fall von Issa al-H., dass er nach Bulgarien überstellt werden sollte und das nicht passiert ist?
Im Administrativen müssten Vorgänge klarer geregelt werden: Wer meldet wem was? Wie schaffen wir es, dass Überstellungen wie im Fall von Issa al-H. oder Abschiebeverfahren zeitnah und dann auch schnell durchgeführt werden? Dass keine Fälle verschleppt werden, nur, weil die Person zum Termin nicht auffindbar ist? Auf dieser Ebene können wir noch einiges rausholen und Effekte erzielen. Dazu müssen wir keine Grundrechte antasten. Denn Grundrechte berühren Grundsatzfragen: Wie wollen wir leben? Als offene Gesellschaft, die Menschen hilft, die unseren Schutz suchen? Denn viele sind tatsächlich schutzbedürftig. Nicht alle, aber viele.
Wenn wir also sagen, wir sind ein solidarischer Staat, wir wollen Menschen in Not Schutz gewähren. Dann sind wir aber auch verantwortlich: Viele Flüchtlinge sind traumatisiert, sie brauchen Fürsorge, wir wollen sie integrieren und wir wollen Kontrolle haben, um nicht ausgenutzt zu werden. Das bedeutet, unsere Ressourcen sind limitiert. Wie können wir sicherstellen, dass sie nicht überstrapaziert werden? Dass wir nicht scheitern, weil es einfach zu viele sind?
Sie wollen auf die Obergrenze hinaus?
Nicht unbedingt, aber wäre die aus Ihrer Sicht ein Werkzeug, um Machbarkeit zu sichern?
Es gibt die Idee zu sagen: Flüchtlinge, die irregulär kommen, haben keine Chance mehr, überhaupt in Europa einen Asylantrag zu stellen. An der europäischen Grenze oder erst recht innerhalb Deutschlands geht nichts. Einen Antrag stellt man nur noch aus Drittstaaten heraus, oder bekommt direkt Schutz in einem Drittstaat. Dafür nimmt die EU aber eine bestimmte Quote von anderen Flüchtlingen auf, die sie selbst aussucht und auf die einzelnen Staaten verteilt. Dadurch behält sie die Kontrolle über die Zahl der aufgenommenen Menschen. Ich verstehe auch die Argumente hinter dieser Idee. Aber es ist nicht machbar und in der Praxis keineswegs human. Eine harte Grenze mit einer harten Quote ist eine Illusion. Rein rechtlich geht das nicht und auch sonst nicht.
Was würde man mit den Leuten tun, die an der Grenze stehen und nicht weggehen?
Das ist nur eines der Probleme, die wir dann hätten. Ich könnte eine halbe Stunde ausholen und erklären, warum dieser Vorschlag in dieser Härte ein Irrweg ist. Die oft oberflächlichen Verweise auf Australien führen uns in Europa nicht weiter, dazu gibt es wirklich umfassende Belege über Jahrzehnte. Wir können Flüchtlingsströme nur bedingt kontrollieren. Man kann aber etwas tun, was Politik häufig tut, nämlich zu schauen: Wenn wir die Maximalforderung runterkochen, was lässt sich dann daraus machen?
Zum Beispiel?
Zum Beispiel schaffen wir es vielleicht, mehr Anreize zu bieten, damit Flüchtlinge in Drittstaaten bleiben und dort auch wirklich Schutz bekommen, außerhalb der EU. Hier sind keine Wunder zu erwarten und viele bestehende Partnerschaften mit Drittstaaten sind alles andere als einfach und unproblematisch, denken Sie etwa an die Türkei. Dennoch kann man und muss man unermüdlich hier weiterarbeiten, auch durch neue Möglichkeiten zur legalen Migration. Innerhalb der EU können wir die Lasten besser verteilen.
Das hat 2015 nicht besonders gut geklappt.
Die EU hat in ihrem letzten Reformpaket zur Migration beschlossen, dass das Dublinregime verschärft wird, also die Verantwortlichkeit für Asylsuchende zwischen den Staaten strenger geregelt wird. Fristen sollen nicht mehr so einfach ablaufen.
Wie im Fall von Issa al-H. zum Beispiel? Der hätte ja eigentlich in Bulgarien bleiben und Asyl beantragen müssen. Darum sollte er wieder dorthin überstellt werden.
Genau. Davon sollte Deutschland rein zahlenmäßig profitieren, bei uns würde die Zahl der Asylbewerber fallen. Das Reformpaket ist aber auch viel größer als Dublin. So sollen mehr Verfahren direkt in Einrichtungen an EU-Außengrenzen durchgeführt werden, insbesondere in den Fällen, wo nur sehr wenig Aussicht auf Asyl besteht. Im Gegenzug soll es mehr Solidarität zwischen den EU-Staaten geben, so dass auch Länder wie Griechenland und Italien einen Anreiz haben, sich stärker zu engagieren. Es ist keine Revolution, aber der einzige gemeinsam vereinbarte Ansatz, um mehr gegenseitiges Vertrauen und Fairness zu schaffen. Wir müssen dabei Geduld aufbringen. Die Reform ist komplex und tritt erst in zwei Jahren verbindlich in Kraft.
Und bis dahin?
Bis dahin übt die Bundesregierung schon jetzt zunehmend Druck aus auf andere EU-Mitgliedsstaaten, damit sie aktiver werden. Wir sehen das in der Ausweitung von Binnengrenzkontrollen zu den osteuropäischen Nachbarn. Dies ist eine zweischneidige Sache, ich verstehe das politische Interesse an den verstärkten Kontrollen. Aber europarechtlich sind diese Binnengrenzkontrollen nur ein kurzfristiges und letztes Mittel der Wahl und sollten in der Regel nach sechs Monaten beendet sein.
Würden Sie sich davon einen spürbaren Effekt versprechen?
Durch ein Bündel an solchen Instrumenten lassen sich die Zahlen sicher etwas nach unten drücken, lässt sich der Zustrom in gewissem Maße regulieren. Aber der Rahmen dafür ist eng, und wir werden nie die komplette Kontrolle darüber haben, wer zu uns kommt. Das haben Jahrzehnte der Migrationspolitik gezeigt. Es sei denn, wir ziehen eine Mauer, aber auch über die Mauer werden es Leute schaffen.
Lassen sich manche durch strengere Maßnahmen abschrecken?
Einige schreckt das ab, die Schleuser würden teurer, weniger Leute könnten sich das leisten. Aber ganz viele werden trotzdem kommen. Denn entscheidend für sie ist die Situation in ihrem Herkunftsland. In der Ukraine herrscht Krieg, im Sudan ebenso. Der Nahe Osten brodelt, in Libyen gibt es Spannungen, das Regime in Tunesien ist enorm fragil, die Sahelzone außer Kontrolle. Es ist furchtbar, dass in so vielen Ländern die Menschen in großer Gefahr leben. Entscheidender als unsere Instrumente der Migrationspolitik ist, was in der europäischen Nachbarschaft passiert und überhaupt auf der Welt.
Mit Raphael Bossong sprach Frauke Niemeyer