Noch wenige Wochen sind es bis zur Landtagswahl in Brandenburg am 22. September. Die AfD droht auch dort stärkste Kraft zu werden. Sozialdemokrat Dietmar Woidke hofft dennoch, Ministerpräsident bleiben zu können. Er kann auf ein starkes Wirtschaftswachstum verweisen, an dem auch Jörg Steinbach mitgewirkt hat. Der Wirtschaftsminister war maßgeblich an der Entscheidung von Tesla beteiligt, die Fabrik in Grünheide zu bauen.
ntv.de traf Steinbach noch vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen, als er in der Märkischen Heide einen Handwerksbetrieb besuchte. Ausgiebig lässt sich Steinbach die Firma zeigen und sitzt im Anschluss noch mit seinen Gastgebern bei einem Bier zum Mittagessen zusammen. Steinbach ist nahbar, ist schnell beim "Du" und lässt sich nicht treiben von seinem engen Terminkalender. Im anschließenden Gespräch mit ntv.de nimmt der in West-Berlin aufgewachsene Gründungspräsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg vor allem die Chancen der Region in den Blick - und zeigt sich "extrem traurig" über die DDR-Verklärung mancher Brandenburger.
ntv.de: Sie haben sich vor unserem Termin einen Elektrobetrieb in der Märkischen Heide besucht. Wie nehmen Sie die Stimmung im Brandenburger Handwerk wahr?
Jörg Steinbach: Die Stimmung wird wieder besser. Ich sitze drei bis vier Mal pro Monat mit dem Handwerk zusammen und erlebe immer mehr Unternehmen, die die Ärmel hochkrempeln. Die wollen sich den Aufgaben stellen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Jörg Steinbach ist seit sechs Jahren Wirtschaftsminister in Brandenburg. Der promovierte Chemieingenieur wurde 2010 Präsident der Technischen Universität (TU) Berlin und ging 2014 nach Brandenburg, wo er als Gründungspräsident fünf Jahre die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg leitete - kurz: BTU Cottbus. Der SPD-Politiker und verheiratete Vater dreier Kinder ist im Westen Berlins aufgewachsen.
Brandenburg hatte im vergangenen Jahr das stärkste Wirtschaftswachstum aller Bundesländer. Die Arbeitslosenquote liegt unter sieben Prozent. Geht es Brandenburg wirtschaftlich gut?
Bezogen auf die Durchschnittswerte muss man sagen: Brandenburg ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Diesen Durchschnittswerten stehen natürlich viele Einzelfälle entgegen, denen es nicht gut geht. Dennoch: so viele sozialversicherungspflichtige Jobs wie nie zuvor, das Bruttoinlandsprodukt wächst, die Wertschöpfung nimmt zu, die abgewanderten Brandenburgerinnen und Brandenburger kommen zurück ins Land, es kommen Menschen aus anderen Bundesländern neu zu uns, weil es hier attraktive Unternehmen als Arbeitgeber gibt.
Das passt so gar nicht zur oft negativen Stimmung im Land.
Teils, teils. Die Menschen, mit denen ich spreche, sagen oft: "Ja, im Augenblick geht es mir gut. Aber ich habe Angst, dass es mir bald schlechter gehen könnte." Die Menschen haben sich nach der Wiedervereinigung von einem niedrigen Niveau hochgearbeitet. Jetzt ist das Lebensniveau relativ hoch - genauso wie die Angst, davon auch nur einen Teil zu verlieren. Es gibt aber noch eine weitere Erklärung.
Und zwar?
Wir alle, da schließe ich mich nicht aus, haben 20 Jahre lang in einem Wasserbett gelebt. Deutschland hat russisches Gas und Öl zu niedrigen Preisen bezogen und daraus entsprechende Gewinne erwirtschaftet. Klimaschutzmaßnahmen wurden nur diskutiert und nicht konsequent genug angepackt. Auch der demografische Wandel stand zu wenig im Fokus der Politik. Alle diese Themen müssen wir nun gleichzeitig in kurzer Zeit beackern. Das führt zu deutlich mehr Verwerfungen, als wenn wir das über einen längeren Zeitraum gestreckt hätten. Große Veränderungen lösen große Ängste aus.
Was halten Sie denen entgegen, die Erneuerbare Energien und Zuwanderung als Werkzeuge der Problemlösung ablehnen?
Wir müssen die Menschen überzeugen, sich dieser Veränderungsbereitschaft zu stellen. Die Generation meiner Eltern hat noch Abstriche in Kauf genommen, damit es den Kindern einmal besser geht. Das fehlt mir heute in Teilen der Gesellschaft. Viele Menschen zwischen 45 und 65 Jahren, mit denen ich spreche, reden vor allem über die Folgen der Veränderungen für sie selbst. Denen fehlt die Bereitschaft, politische Entscheidungen daran zu messen, ob sie enkeltauglich sind. Da müssen wir als Gesellschaft wieder hinkommen.
Gerade die Menschen im Osten tragen aber die Erfahrung mit sich herum, dass ihnen schon einmal gesagt wurde: "So wie du bisher gelebt hast, war es falsch." Dann haben sie sich am Westen orientiert und das soll jetzt auch falsch gewesen sein?
Diese Wahrnehmung spielt mit Sicherheit eine Rolle. Mein Ministerpräsident Dietmar Woidke betont immer wieder, wie es wirklich war: Dass die Menschen nach der Wende zum Teil eine zweite und auch dritte Ausbildung absolvieren mussten, um irgendwie Fuß zu fassen. Zudem ist während der Wiedervereinigung weiß Gott nicht alles richtig gelaufen. Es gibt daher eine Veränderungsmüdigkeit und Narben, die zwar verheilt sind, aber bleiben.
Viele Menschen im Osten fühlen sich von der Politik bevormundet.
Bundespräsident Walter Scheel hatte sinngemäß einmal gesagt, Aufgabe von Politik ist es nicht, den Menschen vom Mund abzulesen, welche Politik sie wollen und diese umzusetzen. Politik muss das Notwendige erkennen und dafür Überzeugungsarbeit leisten. Dafür müssen die Menschen aber auch Mehrheitsentscheidungen respektieren. Viele Menschen aber verwechseln ihre Einzelmeinung mit einer Art Vetorecht, nicht nur bei uns im Osten. Psychologisch ist das schwierig: Wenn es um Mehrheiten geht, hat der Osten zusammengenommen deutlich weniger Stimmen als Nordrhein-Westfalen.
Unionspolitiker würden vermutlich argumentieren, dass man Veränderungen auch mit Augenmaß vorantreiben kann, um die Menschen nicht zu überfordern.
Klar wäre das hübsch, mal eine Pause bei den Reformschritten einzulegen und durchzuatmen. Fünf Jahre Stillstand würden uns beispielsweise beim Klima aber noch teurer zu stehen kommen. Das gleiche gilt für die Wirtschaft: In bestimmten Branchen und bei bestimmten Produkten haben deutsche Unternehmen ihre Technologie- und Marktführerschaft verloren. Wenn wir jetzt weiter auf alte Technologien setzen, wird der Abstand noch größer. Erneuerbare Energien sind dagegen unsere Chance. Handelnde Politik spricht die Aufgaben an und mutet sie auch zu.
Schwierig in einem Umfeld, in dem politische Unternehmer davon leben, Ängste zu schüren und verheilt geglaubte Narben aufzureißen.
Auch die demokratischen Parteien haben Fehler gemacht. Diese Wahrnehmung einer Verbotspolitik, das Gefühl "ich werde gegängelt": Das hat zu einer natürlichen Abwehrhaltung geführt. Da ist Politik in Teilen zu forsch vorangegangen. Auch deshalb fahre ich zu den Unternehmen, besuche Stammtische der Unternehmer und Verbände. Das ist selten vergnüglich. Aber wenn die Leute merken, ich bin authentisch, und was ich sage, ist belastbar, dann dreht sich der Wind. Dann geben mir die Menschen vielleicht nicht in allen Punkten Recht, aber doch mehr als vorher. Es wird anerkannt, wenn ich offen und direkt spreche. Ein Freund, der seinem Gegenüber nach dem Mund redet, ist kein Freund.
Über Brandenburg hinaus sind Sie vor allem als der Mann bekannt, der Tesla nach Grünheide geholt hat. Was hat das dem Land gebracht?
Tesla ist für uns eine ganz klare Erfolgsstory. Aus drei Gründen: Erstens hat uns die - so nicht von allen erwartete - Entscheidung für den Standort auf der Landkarte bekannt gemacht. Auf Tesla sind ja weitere Ansiedlungsanfragen gefolgt. Die Unternehmen sagten sich, dass an der Entscheidung von Tesla für Brandenburg ja was dran sein müsse. Das hat zu mehreren Milliarden weiterer Direktinvestitionen in den letzten fünf Jahren geführt, die wir sonst so nicht gehabt hätten.
Der zweite Grund?
Tesla hat 12.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Insgesamt sind in den vergangenen fünf Jahren 20.000 neue Industriearbeitsplätze entstanden, davon etwa 6000 in der Lausitz. Wenn wir über die absehbar wegfallenden Arbeitsplätze aus dem Kohletagebau reden, wurden diese industriellen Arbeitsplätze jetzt schon kompensiert. Und drittens geht auch die wachsende Wertschöpfung auf Tesla zurück, weil das Unternehmen in der Pandemie gemerkt hat, wie verletzlich Lieferketten sind. So sind auf Tesla auch Zulieferer gefolgt.
Trotzdem ist die Stimmung schlecht. Die SPD liegt in Umfragen hinter der AfD und hat das BSW im Nacken. Wieso verfängt Ihre Erfolgsstory nicht?
Die Gehälter liegen in unserem Bundesland im Schnitt noch immer 17 Prozent unter denen im Westen. Die Löhne bei Tesla liegen zum Teil über dem Flächentarifvertrag und mit dem ICE-Werk in Cottbus entstehen 1100 weitere Arbeitsplätze in einem tarifgebundenen Unternehmen. Bei der regionalen Wirtschaft löst das aber auch Ängste aus, weil die mit ihren Löhnen nicht mithalten kann. Man muss diesen kleineren Unternehmen klarmachen, dass doch längst nicht jeder Schichtarbeit in die Tesla-Hallen will. Familiäre Unternehmen haben auch ihren Reiz als Arbeitgeber. Diese Firmen müssen aber auch selbst die Ärmel hochkrempeln und sich für Arbeitnehmer und Auszubildende attraktiv machen. Das war bei der hohen Arbeitslosigkeit in der Region lange Zeit unnötig.
Ansiedlungen wie Tesla bei Berlin oder auch die Halbleiter- und Chipfabriken in Magdeburg und Dresden werden oft als Leuchtturmprojekte kritisiert, die die Fläche noch trostloser aussehen lassen. Muss ein Flächenland wie Brandenburg auch ehrlich kommunizieren, dass bestimmte, geografisch abgelegene Regionen keinen großen Boom mehr erleben werden?
Nein. Die Metropolregion Berlin platzt aus allen Nähten, was viele Brandenburger Regionen mit gutem Bahnanschluss höchst attraktiv macht. Aber auch eine weiter entfernt gelegene Region wie die Prignitz kann profitieren: Die Stadt Wittenberge liegt auf halber ICE-Strecke zwischen Hamburg und Berlin. Darin liegt doch auch eine Chance! Anderes Beispiel: Der Landkreis Elbe-Elster hat sich lange Zeit etwas zurückgesetzt gefühlt. Jetzt baut die Bundeswehr den Standort Holzdorf deutlich aus, mit 1000 bis 3000 zusätzlichen Dienstposten, die alle ihre Familien mitbringen. Eine andere Chance für strukturschwache Regionen sind Rechenzentren, die weder Bahn- noch Autobahnanschluss brauchen, aber auch Jobs bringen. Viele Entwicklungen brauchen Geduld, aber ich bin guten Mutes.
Wie für die Löhne großer Unternehmen gilt: Auch gute Entwicklungen kommen mit Veränderungen. Haben Brandenburger nicht das Recht zu sagen: "In unserem Dorf soll es bleiben wie gehabt, ohne westdeutsche Großstädter oder schwarzhaarige Menschen mit ganz anderer Kultur"?
Das hebt sich immer dann schnell auf, wenn die eine Kommune zusätzliche Gewerbeflächen für neue Unternehmen ausweist. Dann folgen mehr Steuereinnahmen, es gibt einen für alle sichtbaren neuen Spielplatz. Da heißt es in der Nachbarkommune plötzlich: Warum haben wir das nicht?
Dann müssen sich Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund aber auch willkommen fühlen und nicht unter einer Art Generalverdacht stehen.
Als ich noch Universitätspräsident in Cottbus war, wurde Pegida gerade groß. Da hat der heutige AfD-Spitzenkandidat Berndt immer gesagt, die 'guten Ausländer' an der Universität wollen wir ja haben, aber die anderen nicht. Er konnte mir nur nie erklären, wie er auf der Straße Flüchtlinge und ausländische Studierende unterscheiden will.
Wenn es um Rassismus in Deutschland geht, ist man schnell bei der grundsätzlichen Demokratiefähigkeit von Ostdeutschen. Wie bewerten Sie das?
Wer sich den Zuspruch für die AfD in Baden-Württemberg oder Hessen anschaut, weiß: Das ist ein gesamtdeutsches Problem. Dennoch bin ich persönlich extrem traurig. Ich habe den Mauerbau erlebt, die Wiedervereinigung und immer enge Freunde hier in Brandenburg und Thüringen gehabt. Wenn ich mir die Ergebnisse der Europawahlen anschaue, stelle ich fest: Wir haben viele Schritte rückwärts gemacht in der Wiedervereinigung. Das Wertesystem geht auseinander. Wenn ich heute darüber rede, dass ich ein absoluter Fan von Europa bin, guckt man mich in Brandenburg oft an wie von einem anderen Stern. Zugleich erlebe ich immer öfter eine rückblickende Verklärung der DDR. Das tut mir wirklich weh. Ich versuche, über diese Menschen nicht den Stab zu brechen, sondern einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Ich will die Menschen ja verstehen. Bisher scheitere ich an diesem Perspektivwechsel, werde mich aber weiter darum bemühen.
Wie nehmen Sie den offenkundigen Antiamerikanismus wahr, auf den sich AfD und BSW in ihrer Ukraine-Politik stützen können?
Ich komme aus einer Stadt, die ohne die Hilfe der Amerikaner nicht überlebt hätte. Aber mich bedrückt weniger die Frage: Wie werden die Amerikaner gesehen? Die sind auch keine Engel und verfolgen ihre eigenen Interessen. Aber ich war im Sommer in der Normandie und habe nochmal eindrücklich gesehen, wie viele Amerikaner, Engländer und Franzosen dafür gestorben sind, Europa vom Nationalsozialismus zu befreien. Die USA haben nicht gefragt: "Was geht uns das an?", sondern haben unter enormen Opfern Europa vom Faschismus befreit. Diese bedingungslose Einsatzbereitschaft war unsere Rettung. Eine Haltung, die man nicht vergessen darf.
Mit Jörg Steinbach sprach Sebastian Huld